DOMRADIO.DE: Ungarn definiert sich als christliches Land, hat aber gleichzeitig einen Zaun gegen Flüchtlinge an der serbischen Grenze aufgebaut. Wo bleibt da der christliche Wert der Nächstenliebe? Wie passt das zu den Äußerungen von Papst Franziskus?
Eduard Habsburg-Lothringen (Ungarischer Botschafter am Heiligen Stuhl): Es kann mehrere Arten geben, Migranten zu helfen. Einige sagen: Wir müssen sie alle aufnehmen, ohne Unterschiede zu machen, mit offenen Armen und voller Liebe. Das ist christlich, während einen Zaun zu bauen, nicht christlich ist.
Es gibt aber auch andere, die sagen: Wir könnten viel mehr helfen, wenn wir die Situation in den Herkunftsländern verbessern, sodass die Menschen gar nicht ihre Heimat verlassen müssen. Jeder Mensch hat das Recht, in seiner Heimat zu bleiben, davon spricht auch der Papst. Wenn wir Menschen helfen, gar nicht aufbrechen zu müssen, dann helfen wir ihnen viel mehr, als wenn wir sagen: Geht auf diese Reise, im fremden Land winkt euch ein besseres Leben.
Ich finde: Wir sollten nicht von vorneherein festlegen, was die christliche Antwort auf die Migrationsfrage ist. Geben wir verschiedenen Ländern das Recht, verschiedene Lösungen zu finden – und reden wir miteinander.
DOMRADIO.DE: Trotzdem steht die Politik der ungarischen Regierung im Konflikt zu dem, was Papst und Vatikan zum Thema Flüchtlinge sagen. Wie passt das zusammen?
Habsburg-Lothringen: Der Papst hat seinen Standpunkt in der Flüchtlingsfrage auch immer verfeinert. Im Jahr 2015 hat er davon gesprochen, dass Zäune aufstellen nicht gut und nicht christlich sei. Heute sagt er aber auch: Ein Land soll nur Flüchtlinge aufnehmen, wenn es sie auch ordentlich integrieren kann. Ein Land hat ein Recht auf Grenzen, und diese Grenzen müssen auch geschützt werden können. Ein Land muss auch die Ängste seiner Bürger ernst nehmen.
Ich spüre im Papst zwei Seiten. Einerseits der radikale Vertreter des Evangeliums, der eigentlich die ganze Welt retten möchte und jeden Flüchtling in Europa umarmen und aufnehmen will, im Namen des Evangeliums. Auf der anderen Seite sehe ich auch den Politiker und Staatsmann Franziskus, der weiß, dass ein Staat nicht so handeln kann. Ein Staat muss auch an Verantwortung für die Bürger denken, an Verträge, Pässe, Grenzen und Gesetze. Irgendwo zwischen diesen beiden Punkten sehe ich die Position von Papst Franziskus.
DOMRADIO.DE: Nun ist es relativ einfach, als Deutscher mit der "Willkommenskultur" von Angela Merkel die Abschottungspolitik von Viktor Orbán und der ungarischen Regierung zu verurteilen. Was verstehen wir als Westeuropäer nicht von Ungarn und seiner Mentalität?
Habsburg-Lothringen: Ungarn ist als Land sehr geschichtsbewusst, das muss man verstehen. Wir haben in unserer Geschichte sehr schlechte Erfahrungen mit Kräften von außen gemacht. 150 Jahre lang waren wir Teil des osmanischen Reiches. In der kollektiven Erinnerung gibt es also als erstes eine traumatische Erfahrung mit dem Islam. Das muss man faktisch so festhalten, und das erklärt vielleicht die Nervosität beim Gedanken daran, tausende muslimische Migranten aufzunehmen.
Nach der Besetzung der Osmanen kamen die Habsburger und dann der Kommunismus. Erst seit 1989 sind wir eigenständig. Und wenn seitdem uns jemand von außen sagt, was wir machen sollen, dann gehen instinktiv erst mal die Fäuste hoch. Das ist unser nationaler Instinkt. Der ist auf den ersten Impuls vielleicht mal ein bisschen patzig, später wird das oft etwas ausgewogener formuliert. Dazu kommt dann auch noch unsere Regierung, jetzt in der dritten Legislaturperiode. Eine Regierung mit großer Mehrheit, die christliche Werte in den Vordergrund stellt, die das Wort "Gott" als erstes Wort in die Verfassung geschrieben hat.
Alles das löst in den Ländern westlich von Ungarn durchaus Nervosität und Bauchweh aus. Die Ungarn sind oft direkt, manchmal auch ungeschliffen und etwas laut, aber selbst wenn unser Premierminister Orbán wie eine Mischung aus Ghandi und Dalai Lama sprechen würde, würde das die Wahrnehmung wohl auch nicht ändern.
DOMRADIO.DE: Gibt es denn eine Möglichkeit, diese Diskrepanz zwischen Ost und West in Europa wieder zusammenzubringen?
Habsburg-Lothringen: Ich glaube schon, aber dafür müssen wir wieder lernen, einander ohne vorgefasste Meinungen zuzuhören. Ich bin Vater von sechs Kindern, da kommen die Kleinen am Abendessen-Tisch auch nicht immer zu Wort. Vielleicht gibt es manchmal ähnliche Situationen in der EU. Eine solche ehrliche, offene Debatte würde sicher auch einige Spannungen und Probleme in Europa etwas lösen können.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.