DOMRADIO.DE: Wie schätzen Sie die Situation ein: Hätte der Vorfall am Donnerstagabend schlimmer ausgehen können?
Ulrich Nersinger (Vatikan-Experte): Ja, ich schätze es durchaus dramatischer ein, als es momentan kommuniziert wird. Denn man muss sich einmal vor Augen führen, dass es einem Eindringling mit dem Auto gelang, bis ins Herz der Vatikanstadt vorzudringen.
Nicht nur zum Eingang, sondern bis in den Innenhof des Apostolischen Palastes ist der Eindringling mit seinem Auto gelangt. Das ist eine relativ lange Strecke. Er musste nicht nur einen oder zwei Wachposten passieren. Man muss an mehreren Wachposten vorbei. Ich sehe das schon in einer dramatischen Art und Weise.
DOMRADIO.DE: Die Kontrollen für Pilger und Touristen am Petersplatz sind nicht so streng, wie wir das zum Beispiel vom Flughafen oder von Gerichtssälen kennen. Wie ist die Sicherheitslage im Vatikan einzuschätzen?
Nersinger: Es sollte eigentlich sicherer sein. Man hat auch viele Sachen zur Sicherheit verbessert. Man hat eine hervorragende Videoüberwachungsanlage. Die Sicherheitskräfte, sowohl die Schweizergarde als auch die Gendarmerie, sind mit relativ guten Waffen ausgestattet. Das ist eigentlich schon vorhanden. Aber man muss zugeben, dass die Vatikanstadt in gewissen Bereichen schwer zu sichern ist, weil alles auf kleinem Platz zusammengedrängt ist.
DOMRADIO.DE: Wenn man mal darüber nachdenkt, dass der Vatikan das Zentrum der katholischen Weltkirche bildet und das Thema Religion auch Konfliktpotenzial bietet, stellt man sich die Frage, warum nicht häufiger etwas passiert ist, oder?
Nersinger: Man hat Riesenglück gehabt, dass bisher noch nichts geschehen ist. Das ist unglaublich, denn die Schwierigkeiten der Absicherung sind gewaltig.
Aber das, was gestern passiert ist, darf nicht passieren. Was wäre geschehen, wenn nicht nur ein Mann in dem Auto gesessen hätte und eine Sprengstoff-Ladung darin gewesen wäre? Man hätte den Apostolischen Palast in Gefahr gebracht. Hätte man nicht das Tor beim Zugang zu den vatikanischen Gärten geschlossen, wäre der Betreffende am Petersdom vorbeigefahren und hätte den Petersdom in Gefahr gebracht.
Er wäre in kaum mehr als einer Minute vor Santa Marta, wo Papst Franziskus wohnt, gewesen.
DOMRADIO.DE: Einer der wichtigsten Vorfälle, was Sicherheit im Vatikan angeht, war das Attentat auf Johannes Paul II. Das war auf dem Petersplatz, also nicht innerhalb der Mauern der Vatikanstadt. Welche Sicherheitsvorkehrungen gab es damals? Hat sich etwas durch dieses Attentat in den letzten Jahrzehnten verändert?
Nersinger: Man hat das Attentat damals nicht erwartet. Man hat nicht geglaubt, dass das geschehen könnte. Und man war natürlich nicht vorbereitet. Es gab allerdings schon italienische Sicherheitskräfte auf dem Petersplatz. Laut Konkordat ist das erlaubt, weil auch die vatikanischen Sicherheitskräfte bei größeren Veranstaltungen immer unterstützt werden mussten.
Dann hatten wir die Vorgängerorganisation der Gendarmerie da. Wir hatten die Schweizergarde. Aber man war nicht bereit für solche Fälle.
Man hat natürlich auch nicht die technischen Möglichkeiten gehabt. Man hatte keine umfassende Videoüberwachung, man hatte keine Sicherheitsschleusen. Das war damals durch die Vorstellung bedingt, dass nichts passieren könne.
DOMRADIO.DE: Sicherheitsschleusen und Videoüberwachung gibt es jetzt. Trotzdem hat sich dieser Vorfall ereignet. Müsste sich dennoch etwas ändern? Bräuchte es härtere Sicherheitskontrollen im Vatikan?
Nersinger: Ja, es muss sich etwas ändern. Das Ganze muss diskutiert werden, weil das so nicht geht. Das widerspricht jedem Sicherheitsverständnis. Das darf nicht passieren. Und ich will nicht sagen, dass da Köpfe rollen müssen, aber man muss darüber diskutieren.
Man muss wahrscheinlich bestimmte Sicherheitsvorkehrungen einsetzen. Ich habe vor einigen Jahren eine der Sicherheitsinstitutionen darauf angesprochen und gefragt, warum es keine versenkbaren Sicherheitsbarrikaden gibt? Da hat man mich mit einem mitleidenden Lächeln angesehen.
Ich denke, man ist in vielen Punkten zu blauäugig gewesen. Man hat tolle Überwachungsanlagen. Aber was nützt das, wenn damit nicht reagiert wird?
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.