Stadtdekanat Köln: Was bedeutet die gegenwärtige Ausnahmesituation wegen der Coronavirus-Pandemie für Paare und Familien?
Theresia Stamm (Leiterin der katholischen Ehe-, Familien- und Lebensberatung in Köln Porz): Für die meisten Menschen ist das eine neue Situation. Alle sind zu Hause, die Kinder sind nicht in der Schule, die Eltern im Homeoffice. Es gibt keine Entlastung wie sonst, über die Kita, die Schule oder die Großeltern. Das Zusammenleben in dieser Zeit braucht im Letzten einen disziplinierteren, vorsichtigeren Umgang, als wir ihn gewohnt waren. Man kann sich nicht aus dem Weg gehen.
Bei uns melden sich aber gerade jetzt auch viele alleinlebende Menschen. Die Menschen leiden sehr unter der Einsamkeit. Das ist schon sehr belastend für sie, gerade wenn sie zu einer Risikogruppe gehören oder wenn sie lange niemanden mehr gesehen haben. Die Ungewissheit, wie es weitergeht und wann wieder Normalität herrscht, ist eine zusätzliche enorme Belastung.
Stadtdekanat Köln: Was können Paare oder Familien tun, um mit der Situation zurecht zu kommen, gerade wenn sie nur wenig Raum zur Verfügung haben?
Stamm: Familien und Paare brauchen neue Absprachen für neue Strukturen und neue Tagesabläufe mit Arbeits- und Lernzeiten. Eine äußere Ordnung – der strukturierte Tag – führt zur inneren Ordnung, zum Gefühl, die Kontrolle ein wenig über die Ausnahmesituation zurückzugewinnen.
Eine Möglichkeit sind Auszeiten voneinander – alleine einen Sparziergang machen, mal alleine ein Zimmer in der Wohnung nutzen, sich Rückzugsräume schaffen. Aber auch aktiv gestaltete Familienzeit und – wenn gewünscht – aktiv gestaltete Zeit für die Partnerschaft sind unerlässlich. Es ist wichtig, dass alle ihre eigenen Bedürfnisse äußern können: Wer benötigt was in dieser Situation?
Stadtdekanat Köln: Was bedeutet das konkret?
Stamm: Es ist wichtig, gerade in diesen Zeiten die Verantwortung für das eigene Wohlergehen zu übernehmen. Wenn jeder Erwachsene sich um sein eigenes Wohlbefinden sorgt, spiegelt sich dieses Ausgeglichensein in der Partnerschaft wider: Sind die Eltern entspannt, reagieren die Kinder entsprechend. Umgekehrt natürlich auch.
Jeder Erwachsene kann nur für sein eigenes Wohlergehen sorgen. Das heißt nicht, egoistisch zu sein. Es bedeutet, keine erhöhten Erwartungen an den anderen zu haben, das führt sonst nur zu Enttäuschungen. Wenn es dann zu Vorwürfen an den Partner kommt, weil der die – oft unausgesprochenen Erwartungen – nicht erfüllt hat, gerät das Paar in eine Sackgasse. Man sollte nicht hoffen, der Partner oder die Partnerin verändert sich in dieser Krise, ist netter als sonst, nimmt mir belastende Dinge ab oder anderes.
Die äußere Krise löst keine familiäre oder partnerschaftliche Krise, sondern spitzt sie mitunter zu. Alte, schon lange bestehende Konflikte in Familie und Partnerschaft lassen sich jetzt mit dem Mehr an freier Zeit auch nicht zwingend lösen.
Hinzu kommen häufig Sorgen um den Arbeitsplatz, finanzielle Engpässe und andere Belastungen. Die können sehr viel Raum einnehmen. Man sollte versuchen, Ruhe zu bewahren, so gut es geht, und abzuwarten, welche konkreten Hilfen greifen – und zwar dann, wenn die Situation sich konkret zeigt. Dann können Anträge auf auch finanzielle Hilfen gestellt werden, da gibt es viele Möglichkeiten. Allgemein sollte man versuchen, so gut es geht, im Hier und Jetzt zu leben.
Stadtdekanat Köln: Wie kann man positiv mit der Situation umgehen und Belastungen etwas Positives entgegensetzen?
Stamm: Es kann helfen, wenn Paare und Familien sich gemeinsam erinnern: Wie haben wir krisenhafte Situationen im Leben gemeinsam gemeistert? Was hat uns geholfen? Ich nenne es, die persönliche Schatzkiste öffnen. Sich an Schönes erinnern, aber auch an eigene Bewältigungsstrategien. Es ist auch wichtig, einzelnen Familienangehörigen konkrete Rückmeldungen zu positiven Verhaltensmustern in der aktuellen Situation zu geben, den anderen zu loben und sich gegenseitig im Blick zu haben.
Allgemein sollte jeder gut auf die basalen Dinge des Lebens achten: sich gut ernähren und auf eine gute Versorgung achten. Für ausreichend Schlaf und viel Bewegung sorgen – das hilft auch beim Stressabbau. Der Aufenthalt an der frischen Luft, in der Natur, hilft, einen „Lagerkoller“ zu vermeiden. Es ist wichtig, sich bewusst Zeit für schöne Dinge zu nehmen, etwa ein Hobby, vielleicht auch ein fast vergessenes. Und es kann guttun, sich mit den eigenen Fähigkeiten und Stärken zu beschäftigen. Das stärkt und kann dabei helfen, besser mit der Situation umzugehen.
Stadtdekanat Köln: In manchen Ländern wurde durch Corona-Quarantäne und Ausgangssperre ein Anstieg häuslicher Gewalt verzeichnet. Auch in Deutschland wurden bereits mehr Fälle registriert. Erwarten Sie auch für Köln eine Zunahme häuslicher Gewalt?
Stamm: Ja, damit rechne ich. Aufgrund der räumlichen Nähe und Enge kann es zu häuslicher Gewalt kommen, auch zu einer Zunahme von Gewalt in Familien beziehungsweise zwischen Paaren. Die jetzige Situation ist sehr belastend für alle Menschen. Jugendämter, Beratungsstellen, die Telefonseelsorge und andere Institutionen sind weiterhin alle telefonisch erreichbar und bleiben Ansprechpartner auch und gerade in solchen Situationen.
In gewaltbelasteten Familien ist es in einer eskalierenden Situation akut geboten, die Polizei zu rufen. Diese hat die Möglichkeit, die gewalttätig Person für zehn Tage der Wohnung zu verweisen. In der Zwischenzeit können alle Beteiligten – getrennt voneinander – Beratung in Anspruch nehmen.
Bei Gewalt in Familien ist das Jugendamt zu informieren. Die Mitarbeiter machen auch in diesen Tagen Hausbesuche und überprüfen die Situation. Wenn nötig, können sie Kinder in Obhut nehmen. Auch der Kontakt zum Frauenhaus kann eine Lösung für gewaltbetroffene Frauen sein. Das alles gilt natürlich nicht nur in der Corona-Zeit.
Stadtdekanat Köln: Vielen Menschen macht das Virus selbst Angst, dazu die Sorgen um die eigene Gesundheit oder die von Angehörigen sowie die Ungewissheit über die Dauer des Ausnahmezustandes. Wie kann man damit umgehen?
Stamm: Es ist wichtig, darüber zu sprechen. Über das Virus und die Ansteckungsgefahr, über die Auswirkungen, vor allem auch über die eigenen Ängste und Belastungen. Das bedeutet: Ich realisiere das Unfassbare. Die Wahrnehmung, dass alle verunsichert und ängstlich sind, kann helfen. Man macht sich klar: Ich reagiere normal – und dadurch fühlt man sich nicht alleine. Um aus negativen Gedankenkreisläufen heraus zu kommen, sind Gespräche oftmals der kürzeste Weg.
Jeder sollte auch bewusst entscheiden, wie viele Informationen über die Medien ihm oder ihr guttun. Es ist wichtig, sich mediale Auszeiten zu gönnen und sich auch mit anderen Themen sowie anderen Dingen zu beschäftigen. Mit anderen telefonisch oder über das Internet in Verbindung zu bleiben, mit der Familie, Freunden, der Nachbarschaft, kann dabei helfen, mit der Situation und eigenen Ängsten umzugehen.
Gegebenenfalls helfen auch die professionellen Institutionen. Hier findet man Menschen, die zuhören, die die Situation mit etwas Abstand betrachten. Wir stellen Fragen, um Ängste und Unsicherheiten zu verstehen. Und wir stellen Fragen, die den Blick auf die Situation je nachdem weiten oder einengen. Dadurch entstehen neue Perspektiven und es entwickelt sich in einer scheinbar aussichtlosen Situation Hoffnung. Die großen und kleinen Solidaritätsbekundungen im Alltag, wie der Einkauf für die Nachbarin, das kurze Gespräch im Park, mehr Zeit innerhalb der Familie haben, mitunter das Erleben des Frühlings – all das durchbricht unsere Ängste und lässt uns Hoffnung, Zuversicht und Freude schöpfen.
Stadtdekanat Köln: Die ersten Lockerungen sind in Kraft getreten. Entspannt sich damit automatisch die Situation in den Familien und alle kehren zur Normalität zurück?
Stamm: Die Ausnahmesituation und ihre Auswirkungen werden Paare und Familien noch länger beschäftigen. Die Belastungen sind je nach Familiensituation hoch: Neben dem deutlich veränderten Familienleben und Rhythmus, den Ängsten wegen der Corona-Ansteckung, Sorgen um den Arbeitsplatz und um Angehörige sowie neben finanziellen Sorgen und Angst vor Überschuldung befinden sich viele in einer Schockstarre. Das führt auch zu einer gewissen Handlungsunfähigkeit. Es wird durchgehalten nach dem Motto "Irgendwie geht es weiter".
Die Spielräume, um sich bereits jetzt Hilfe zu holen, sind nicht sehr groß. Ein geschütztes Telefonat ist zurzeit schwieriger zu ermöglichen. Der Partner oder die Kinder hören mit. Und auch Alleinerziehende haben nicht die Ruhe und den Raum, um allein zu telefonieren. Daher rechne ich mit einem Anstieg der Beratungsanfragen nach der Corona-Krise. Erst wenn sich auch die gesellschaftliche Starre löst, können sich betroffene Familien und Paare um Hilfe kümmern.
Stadtdekanat Köln: Kann diese Zeit denn auch eine Chance für Paare und Familien sein?
Stamm: Mehr Zeit miteinander zu haben und bisweilen weniger Belastungen durch weniger Arbeitsstress und andere Faktoren, eröffnet die Möglichkeit, miteinander intensivere Gespräche zu führen. Es ist Gelegenheit zu überprüfen, was wirklich im Leben wichtig ist. Was sind unsere Werte? Was ist unsere Ausrichtung? Was trägt uns im Leben? Diese Themen können kommen, allerdings sind viele Menschen zurzeit noch mehr im Außen und noch nicht im Inneren mit grundsätzlichen Lebensfragen beschäftigt.
Das Interview führte Hildegard Mathies.