Denn geflüchtete oder ausgegrenzte Menschen in Lagern oder Slums sind auf unsere Hilfe angewiesen.
DOMRADIO.DE: Alles fällt aus. Gerade sind wir sehr damit beschäftigt, unser Leben an diese Coronakrise anzupassen. Aber wir sollten nach wie vor über den Tellerrand gucken, oder?
Pirmin Spiegel (Hauptgeschäftsführer Misereor): Wir sollten zum einen die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus bei uns sehr ernst nehmen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat das in ihrer Ansprache deutlich gesagt und wir lesen es jeden Tag in den Medien. Zugleich erinnert das Bischöfliche Hilfswerk Misereor daran, dass an den Rändern Europas und weltweit an vielen Orten eine humanitäre Katastrophe geschieht.
Stellen Sie sich einen Slum vor, in dem Menschen viel enger aufeinander leben als an jedem Ort in Deutschland. Wie sollen diese Menschen Distanz halten und sich nicht berühren? Gleichzeitig sind die Gesundheitssysteme fragil oder funktionieren gar nicht. Es gibt Länder, in denen Desinfektionsmittel fehlen. Es gibt Orte, in denen Krankenhäuser nicht mehr mit Strom versorgt werden.
Deshalb die Bitte: In Deutschland die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus sehr ernst zu nehmen und zugleich die Solidarität über Deutschland und Europa hinaus nicht zu vergessen.
DOMRADIO.DE: Sie rufen dazu auf, vor allem die Menschen in Syrien und im Libanon nicht zu vergessen. Sie haben alles verloren, was ein Leben in Sicherheit und Würde ausmacht. Das schreiben Sie auf der Misereor-Internetseite und sagen das auch in einer Videobotschaft. Wie ist die Lage momentan in diesen besonders gefährdeten Regionen?
Spiegel: Ein Beispiel ist die Region Idlib, über die in den letzten Tagen viel in den Medien berichtet wurde. Da leben normalerweise 250.000 bis 300.000 Menschen. Zur Zeit sind es drei bis vier Millionen. Sie sind eingesperrt zwischen der Grenze zur Türkei im Norden und dem Assad-Regime, das rund um das Gouvernement Idlib die Gegend unter Kontrolle hat.
Wenn diese Region von der Coronavirus-Ausbreitung erreicht wird, kommt das zusätzlich zu der äußert schwierigen Lage der Menschen dazu, die unter Traumata, Ausgrenzung, Nahrungsmittelknappheit leiden und der Kälte schutzlos ausgeliefert sind. Die Dramatik und die humanitäre Katastrophe wird sich mit der Coronavirus-Pandemie verdoppeln und vervielfachen.
Wichtig ist, dass wir unsere eigenen Ängste in den Griff bekommen und schauen, dass wir Solidarität leben. Denn es ist ein Zustand, den wir in westeuropäische Gesellschaften in dieser Weise kaum mehr kennen und der sehr viele Menschen irritiert. Zugleich müssen wir schauen, dass die Solidarität in den Nahen Osten, besonders nach Syrien und den Libanon, nicht an den Grenzen Deutschlands und Europas stoppt, sondern darüber hinaus geht.
DOMRADIO.DE: Aus dem Grund findet die Fastenaktion von Misereor auch statt. Wie können Sie als Hilfswerk in der Coronakrise Ihren wichtigen Aufgabe nachkommen?
Spiegel: Wir haben ein großes Privileg als Werk der Entwicklungszusammenarbeit wie die anderen Werke in der Kirche ebenso, dass wir am Sonntag in allen Gemeinden und Vereinen aufrufen für Misereor, Renovabis, missio, Adveniat und Caritas zu spenden. Am fünften Fastensonntag am 29. März laden wir die Gläubigen ein, den Blick zu weiten und Solidarität zu zeigen als Akt der Nächstenliebe, des gemeinsamen Unterwegssein und als Weltkirche in der einen Welt.
Die Gottesdienste werden in ganz Deutschland ausfallen. Daher sind wir sehr besorgt, dass Spenden ausbleiben, um sie an den Orten einzusetzen, von denen ich ihnen jetzt beispielhaft erzählt habe. Deshalb suchen wir in Köln und Freiburg, mit dem Misereor-Bischof in allen Diözesen und über die Diözesen hinaus Möglichkeiten, aktive wie kreative Formen, um Beiträge zu dieser Solidarität zu leisten.
DOMRADIO.DE: Sind da schon kreative Ideen eingetrudelt?
Spiegel: Es gibt Freunde von Misereor, die einen Brief gestaltet haben und ihn als Kettenbrief oder Ketten-Mail an andere Freunde weitersenden. Ich habe tolle Reaktionen erhalten, die mich sehr bewegt und auch ermutigt haben. Misereor will auch mit seinen Mitarbeitenden Freunde und Freundinnen anschreiben. Menschen schlagen uns vor, auf unserer Homepage Aktionsplakate zu veröffentlichen mit dem Aufruf, virtuell Spenden einzusammeln und auf die Armen und vulnerablen Menschen über Deutschland hinaus aufmerksam zu machen. Oder Möglichkeiten zu schaffen, online zu spenden.
Wir werden in den Kirchen oder an zentralen Orten eine Box aufstellen, auf der "Misereor, Werk der Solidarität und Mitmenschlichkeit" steht. So kommen sehr viele Ideen, die uns ermutigen, weiterzudenken, auch wenn hier in der Geschäftsstelle die große Mehrheit Homeoffice macht. Auch um diese Solidarität und diesen Ausdruck des Mitseins an unsere Partnerorganisationen weiter zu melden und weiter zu kommunizieren, weil gerade ihre Arbeit durch den Coronavirus unterbrochen ist.