Verleihung des 60. Deutschen Jugendliteraturpreises

"Klare Orientierungsfunktion"

An diesem Freitag wird im Rahmen der Frankfurter Buchmesse zum 60. Mal den Deutschen Jugendliteraturpreis verliehen. Im Interview spricht Linda Dütsch vom Arbeitskreis für Jugendliteratur über die Rolle von Religion in Kinderbüchern.

Autor/in:
Birgitta Negel-Täuber
Kinder lesen / © Jens Kalaene (dpa)
Kinder lesen / © Jens Kalaene ( dpa )

KNA: Seit 60 Jahren wird der Deutsche Jugendliteraturpreis verliehen. Wie kam es dazu?

Linda Dütsch (Arbeitskreis für Jugendliteratur): In der noch jungen Bundesrepublik verfolgte man einerseits einen pädagogischen Ansatz; man sagte sogenanntem Schmutz und Schund in der Literatur den Kampf an. Dazu gehörten damals auch Heftchenromane und Comics. Ein anderes Ziel war die interkulturelle Verständigung: Der Preis wurde als Mittel der staatlichen Jugendhilfe angesehen, mit dem man auch ideologischen Tendenzen entgegenwirken wollte. Die Zeit des Nationalsozialismus lag ja erst zehn Jahre zurück. Außerdem wollte man der geringen Wertschätzung der Jugendliteratur begegnen und Diskussion und Forschung anregen.

KNA: Bei Buchhändlern gelten preisgekrönte Jugendbücher tendenziell als Ladenhüter. Welche Möglichkeiten sehen Sie, Kinder und Jugendliche in Kontakt mit anspruchsvoller Literatur zu bringen?

Dütsch: Leseförderung und literarische Qualität schließen einander nicht aus. An diesem Punkt sind wohl eher Vorurteile bei erwachsenen Lesern wirksam. Andererseits müssen Buch und Leser zueinander passen, Vermittlung ist deshalb wichtig und nötig. Die fängt schon im Kindergarten an. Bei Jugendlichen ist nicht nur das Thema wichtig, auch die Werbung durch Gleichaltrige spielt eine große Rolle. Unser Projekt "Literanauten überall", bei dem lesende Jugendliche bei Veranstaltungen für Bücher werben, folgt diesem Ansatz. Auch die Empfehlungen der Jugendjury des Deutschen Jugendliteraturpreises werden von der Zielgruppe stark beachtet.

KNA: Kinderbücher werden in aller Regel von Erwachsenen für ihren Nachwuchs gekauft. Wirkt sich eine Auszeichnung wie der DJLP auf die Verkaufszahlen aus?

Dütsch: Wir haben keine konkreten Angaben, aber die Verlage werben mit dem Preis. Man muss sehen, dass jedes Jahr rund 8.000 neue Kinder- und Jugendbücher auf den Markt kommen. Der Buchmarkt ist sehr schnelllebig. Neue Titel haben nur wenig Zeit, sich zu beweisen. Vor diesem Hintergrund hat der Preis ganz klar eine Orientierungsfunktion. Dass die wirksam ist, lässt sich unter anderem daran ablesen, dass viele Titel bis heute lieferbar sind. Viele Preisbücher wurden auch Schullektüre.

KNA: Welches sind heute die großen Themen und Tendenzen in der Jugendliteratur?

Dütsch: Das sind nach wie vor die großen Themen der Menschheit: Liebe, Freundschaft, Familie. Die Suche nach Identität, aber auch moralische Fragen: Was ist richtig oder falsch? Darüber hinaus reagiert die Jugendliteratur auf aktuelle Themen. Das sind zurzeit beispielsweise Krieg, Flucht und Migration – die gab es aber auch schon immer. Diese Themen werden, je nach Genre, unterschiedlich verhandelt, in Fantasy-Romanen anders als im realistischen Roman. Der Anteil der einzelnen Genres hat dabei eher mit Marktmechanismen zu tun, wie sich am Beispiel von "Harry Potter" gut zeigen lässt. Da hängen sich viele an, irgendwann ist dann eine Sättigung erreicht.

KNA: Religion wird zunehmend zu einem Randthema im öffentlichen Bereich. Welche Rolle spielt sie in der Kinder- und Jugendliteratur?

Dütsch: Religion ist ein fester Bestandteil der Kinder- und Jugendliteratur. Bibelausgaben für Kinder oder biblischen Nacherzählungen sind wichtig, außerdem die Kenntnis der eigenen Religion und das Zusammentreffen verschiedener Religionen. Religiöse und ethische Themen werden heute in der Jugendliteratur mit verhandelt, etwa die Verantwortung des Einzelnen für die Gesellschaft oder die Theodizee-Frage: Wie kommt das Böse in die Welt? Es geht auch um die Frage nach dem Leben nach dem Tod; bekannte Beispiele sind hier "Das Leben ist ein mieser Verräter" von John Green oder "Annas Himmel" von Stian Hole, wo unter anderem Jenseitsvorstellungen thematisiert werden. Die Frage nach Gott wird gestellt, die Antwort aber nicht unbedingt in der Religion gesucht. Insofern sind diese Bücher per se keine christlichen Titel.

KNA: Wie kann Literatur zur "Persönlichkeitsstärkung" und Identitätsstiftung bei Kindern und Jugendlichen beitragen?

Dütsch: Bücher vermitteln Kindern und Jugendlichen neue Horizonte, die Leser können über ihre eigene Erfahrungswelt hinausgehen, aber auch Situationen stellvertretend miterleben. Literatur trägt so zur Stärkung von Empathie bei. Die Leser haben vielleicht ähnliche Probleme wie die Jugendlichen im Roman, vielleicht auch ganz andere. Wie leben beispielsweise Menschen in Südamerika? Es gibt den Satz, man müsse eine Meile in den Schuhen anderer laufen, um sie zu verstehen. Das geht auch in der Fantasie, so kann man fremde Welten und Gedanken durch die Literatur kennenlernen.

KNA: Digitale Medien und die sozialen Netzwerke haben zweifellos Einfluss auf Medienkonsum und Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen. Wie beurteilen Sie diesen Trend?

Dütsch: Das vielfältige Medienangebot ist eine Realität, die wir akzeptieren müssen und uns zu Nutze machen können. Der Umgang mit ihnen muss aber reflektiert werden. Was das Lesen betrifft: Auch online wird viel gelesen! Zurzeit gibt es aber nur wenige Forschungsergebnisse zu diesem Thema. Die medienpädagogische KIM-Studie von 2014 sieht ein Nebeneinander von digitalen Medien und Büchern. 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen liest auch weiterhin regelmäßig Bücher. Außerdem ist das Internet als neue Lebenswelt inzwischen auch Thema von Literatur, etwa Cybermobbing.


Quelle:
KNA