DOMRADIO.DE: Wie haben Ihre Stipendiatinnen und Stipendiaten die vergangenen Tage des Konflikts in Israel und dem Gazastreifen erlebt?
Jo Frank (Geschäftsführer des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks): Wir haben ja alle die Bilder gesehen vom offen zur Schau gestellten Antisemitismus auf den deutschen Straßen. Diese Bilder treffen unsere Stipendiatinnen unglaublich, machen sie wütend, machen ihnen Angst, stellen sie aber gleichzeitig auch vor große Fragen. Diese Bilder sind aber eben nur das eine.
Das andere ist: Wie geht man eigentlich damit um, gerade in den sozialen Netzwerken massiven Angriffen ausgesetzt zu sein? Wie schafft man da einen Rahmen, der vor allem für einen persönlich Sicherheit schafft und auch für die Gemeinschaft im Ganzen? Das ist eine riesige Herausforderung für uns alle.
Während wir sehen, dass in der Politik die Solidaritätsbekundungen sehr laut sind und wir hören, dass Antisemitismus keinen Platz in Deutschland hat, sehen wir auf der anderen Seite die Realität, dass Antisemitismus in der Gegenwart auch zu Deutschland gehört.
Das ist die Lage, mit der wir uns auch über die nächsten zehn Tage hinaus, in denen es hoffentlich friedlich bleibt, weiter beschäftigen werden müssen. Auch dann, wenn alle Bekundungen längst verklungen sind.
Natürlich müssen wir die Jüdinnen auffangen, die in dieser Situation mit ihren Ängsten, mit ihrem Gefühl der Unsicherheit und auch mit ihrer Enttäuschung an uns herantreten und Unterstützung benötigen.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielen die sozialen Medien gerade jetzt in der Pandemie?
Frank: Seit dem Beginn der Corona-Pandemie sind die sozialen Medien für uns zu einem ganz großen Problem geworden. Noch größer, als sie es schon davor waren. Die sozialen Medien bieten Plattformen für antisemitische Verschwörungsmythen, ohne dass sie geahndet werden.
In der Zeit vor der Pandemie war es bereits lange Zeit so, dass in den sozialen Netzwerken allerlei antisemitischer Inhalt geteilt wurde und dass einzelne Personen oder Institutionen angeschrieben und bedroht wurden. Das ist aber unter Pseudonymen geschehen. Jetzt passiert das alles offen und unter Nennung von Klarnamen. Da gibt es eine Veränderung in der Qualität. Es ist anscheinend möglich, sich als jemand, der in Deutschland lebt, so in den sozialen Medien zu bewegen, ohne dass es geahndet wird.
Da müssen wir mittel- und langfristig Strategien finden, um Hate Speech im Internet in den Griff zu bekommen: durch die Mittel des Rechtsstaats, aber auch durch Bildungsarbeit. Natürlich muss man das Diskursniveau in den Blick nehmen und deutlich machen, dass Antisemitismus im öffentlichen Raum etwas ist, was wir alle nicht tolerieren.
Was in diesen zurückliegenden 14 Tagen in den sozialen Netzwerken unterwegs war, ist absolut jenseits dessen, was wir als deutsche Gesellschaft akzeptieren können. Da ist der Gesetzgeber gefragt, aber auch die Netz-Community, die sich stärker positionieren muss.
Es ist auch nötog, die Institutionen zu stärken, die sich in diesem Bereich engagieren. Die Amadeu-Antonio-Stiftung macht beispielsweise seit langer Zeit eine großartige Arbeit gegen Hate Speech. Aber auch der RIAS Bundesverband, der sich besonders mit der Meldung von antisemitischen Überfällen und Übergriffen beschäftigt. Die gilt es nachhaltig zu unterstützen und nicht allein zu sagen, wie sehr man Antisemitismus verurteilt. Irgendwann müssen aus diesen Worten auch Handlungen folgen.
DOMRADIO.DE: Gab es denn auch Lichtblicke?
Frank: Es gab auch Solidarität. Ich möchte besonders auf eine Initiative von Organisationen hinweisen, die im jüdisch-muslimischen Dialog engagiert sind. "Wir lassen uns nicht trennen", nennt sich diese Initiative. Im Netz gab es eine gemeinsame Stellungnahme von unterschiedlichen Organisationen, die sich im jüdisch-muslimischen Dialog besonders engagieren.
Gerade in dieser Zeit, in der es uns besonders schwerfällt, miteinander zu sprechen, müssen wir die Beziehungen, die wir aufgebaut haben, weiter pflegen. Wir müssen sie nachhaltig aufbauen und dürfen uns nicht trennen lassen. Diese Situation darf die Ergebnisse unserer Arbeit nicht gefährden.
Das Interview führte Gerald Mayer.