Kein Zoobesuch, kein Schwimmbad, kein Ausflug in die Berge - schon das ist bei schönem Wetter schlimm genug. Wenn aber noch existenzielle Probleme dazukommen, die Eltern in Kurzarbeit sind oder um den eigenen Betrieb bangen, kann sich der Stress auch in häuslicher Gewalt entladen. Davor warnen in Zeiten der Corona-Ausgangsbeschränkungen viele Experten.
"Manchmal bekommen wir dramatische Anfragen", berichtet Elisabeth Rümenapf, die die Erziehungsberatungsstelle bei der Stadtmission Nürnberg leitet. Wenn es etwa um das Besuchsrecht bei geschiedenen Ehepaaren geht, komme man als Beraterin in einer Telefonkonferenz auch an die Grenzen, berichtet sie. Dass sie momentan weniger Hilfegesuche als sonst verzeichne, liege aber wohl daran, dass die Familien noch mit sich selbst beschäftigt seien, sagt Rümenapf.
Kollektive Krise statt individueller Probleme
Sozialpädagoge Timo Jansen sieht das ähnlich. Er arbeitet bei der Psychologischen Beratungsstelle der Diakonie in Regensburg. In der kollektiven Krise träten individuelle Probleme oftmals in den Hintergrund, sagt er. So könnten Ehe- oder Familienkonflikte gegen den "gemeinsamen Feind Corona" vorübergehend zweitrangig werden, weil Menschen in der Lage seien, sich zu arrangieren. Die Frage sei nur, wie lange das anhält. Spätestens am 20. April, wenn "das Notprogramm zur Normalität" werden könnte, rechnet er mit verstärkten Problemen.
Dass momentan die Ruhe vor dem Sturm herrscht, glaubt auch Dorothea Jung von der Online-Beratung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke) in Fürth. Die Zahl der Ratsuchenden habe sich zwar erhöht, aber «noch nicht signifikant». Die Fragen, die häufiger kämen als davor seien, was tun, wenn sich die Atmosphäre zwischen den Familienmitgliedern auflade, was tun mit wütenden Kindern.
Wenn der Verdacht bestehe, dass es in der Nachbarschaft zu häuslicher Gewalt kommt, sollten sich die Bürger ans Sozialbürgerhaus oder die Polizei wenden, sagt eine Sprecherin des Münchner Jugendamts. Das Amt verzeichnet derzeit Fälle von häuslicher Gewalt und Kindeswohlgefährdungen, "aber nicht in einer signifikant steigenden Tendenz". Man gehe davon aus, "dass die Fallzahlen ansteigen werden, je länger die Ausgangsbeschränkungen bestehen bleiben".
Schulen und Kitas geschlossen
Kinder und Familien aus prekären Verhältnissen leiden stark unter der Corona-Krise, sagt Frauke Riegelsberger-Ganglmeier vom Deutschen Kinderschutzbund in Regensburg. Täglich erlebe sie bei den Telefonaten, wie groß die Verzweiflung sei, wenn die Familien auf engstem Wohnraum zusammenleben müssten. "Wie lange kann man das aushalten?", sei eine der meistgestellten Fragen. Auch die Berater wüssten darauf keine Antwort. Aber die Corona-Krise offenbare einmal mehr, "dass die, für die es immer schwierig war, es jetzt noch schwerer haben", so Riegelsberger: "In vielen Familien wird ein Knacks bleiben."
Die Schließung von Schulen und Kitas sei eine große Herausforderung, gerade für Kinder und Jugendliche aus belasteten familiären Situationen, heißt es beim Münchner Sozialreferat. Denn dort erführen sie einen strukturierten Tagesablauf, erhielten eine warme Mahlzeit und könnten sich mit ihren Sorgen an das pädagogische Personal wenden. "Ihre Probleme werden an diesen Orten sichtbar", so eine Sprecherin. "Fallen diese Orte weg, verschwinden die jungen Menschen mit ihren Problemen und Sorgen aus dem Blickfeld."
Polizei vermutet Dunkelziffer
Von einer Dunkelziffer bei häuslicher Gewalt geht die Münchner Polizei aus. Viele Übergriffe würden erst zeitverzögert bekannt, sagt Polizeisprecher Ronny Ledwoch. Zwar sei die Polizei in der ersten Aprilwoche 37 Mal zu Einsätzen wegen häuslicher Gewalt ausgerückt in der gleichen Woche im Vorjahr waren es nur 31 Mal. Doch daran sei noch keine Tendenz ablesbar. Fälle häuslicher Gewalt würden oft erst später angezeigt und nicht, "solange sich die Menschen im sozialen Nahfeld bewegen". Gerade Kinder und Jugendliche griffen nicht einfach zum Telefon, wenn ihnen daheim Unrecht widerfahre.