Unter den vier Lübecker Märtyrern ist der evangelische Pastor Karl Friedrich Stellbrink (1894-1943) derjenige mit der ungewöhnlichsten Biografie. Er war zunächst Mitglied der NSDAP und vertrat in den 1930er-Jahren national-protestantische, antisemitische und antikatholische Ideologien. Doch er wandelte sein Denken und wurde zum Widerständler des nationalsozialistischen Regimes. 1943 wurde er gemeinsam mit drei katholischen Geistlichen hingerichtet. Lübeck begeht seinen 125. Geburtstag am Montag mit einem Vortrag von Kulturwissenschaftlerin Karen Meyer-Rebentisch und einer szenischen Lesung im Europäischen Hansemuseum.
Stellbrink wird am 28. Oktober 1894 in Münster als Sohn eines Zollbeamten geboren. 1911 schicken ihn die Eltern nach Berlin, wo er das Internat "Johannesstift", eine Kaderschmiede des National-Protestantismus besucht. Später beginnt er eine Ausbildung zum Auslandsprediger und wird 1915 zum Militärdienst eingezogen, aus dem er im September 1917 mit einer Verletzung an der linken Hand wieder entlassen wird. Zurück in Berlin, tritt er mehreren völkischen und antisemitischen Organisationen bei, darunter dem Bund für Deutsche Kirche.
Pastor und Kriegsveteran
"Er radikalisiert sich in dieser Zeit von 1917 bis 1919 unter dem Eindruck des verlorenen Krieges und der Republikgründung", sagt Meyer-Rebentisch, die sich seit 2010 mit den Lübecker Märtyrern beschäftigt. Von 1921 bis 1929 geht Stellbrink mit seiner Frau nach Brasilien. Von den vier Kindern des Paares, die in dieser Zeit geboren werden, überleben drei. 1930 übernimmt der Pastor eine Pfarrstelle in Thüringen. Stellbrink ist noch immer glühender Nationalist, tritt bei der NSDAP als Redner auf und wird im Mai 1933 Mitglied. "Noch glaubt er den Versprechungen Hitlers, dass die Kirche ein Fundament der deutschen Gesellschaft sei und bleibe", so Meyer-Rebentisch.
Doch lange hält die Begeisterung nicht an: Disziplinlosigkeit, Verworrenheit, Unsittlichkeit attestiert Stellbrink den Nazis, die ihn als Pastor und Kriegsveteran eher belächeln als würdigen. Auch als er 1934 an die Lübecker Lutherkirche kommt, kritisiert Stellbrink weiter die Parteiführung und wird als Querulant 1937 aus der NSDAP geworfen. Zu der Zeit habe er "die wachsende antikirchliche Haltung in Staat und Partei" erkannt, erläutert Meyer-Rebentisch.
"Jetzt spricht Gott mit mächtiger Stimme"
Offen wendet er sich 1939 gegen den Krieg und wird dafür von der Gestapo verwarnt. 1941 trifft Stellbrink auf die katholischen Lübecker Kapläne Johannes Prassek, Hermann Lange und Eduard Müller. Seinen Antikatholizismus hat er da schon begraben. Zwischen den Gemeindehäusern gehen fortan Flugschriften, Hirtenbriefe, Zeitungsberichte und Predigten hin und her. Als Höhepunkt des verschwörerischen Tuns gilt die Vervielfältigung und Verbreitung der Predigten des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen, der sich entschieden der Euthanasie entgegenstellt.
Ende März 1942, in der Nacht auf Palmsonntag, fliegt die Royal Air Force einen Großangriff auf Lübeck. Beim Gottesdienst am nächsten Morgen sagt der Pastor: "Jetzt spricht Gott mit mächtiger Stimme" und "Ihr werdet wieder beten lernen". Diese Sätze führen zur Verhaftung Stellbrinks am 7. April. Wenige Wochen später werden auch die katholischen Kapläne festgenommen. Gemeinsam werden sie im Juni 1943 vom Volksgerichtshof wegen Wehrkraftzersetzung, Feindbegünstigung und Vergehen gegen das Rundfunkgesetz zum Tode verurteilt. Am Abend des 10. November 1943 sterben sie unter dem Fallbeil in Hamburg.
Die evangelische Kirche entlässt Stellbrink nach seiner Verhaftung aus dem Pfarrdienst. Anders als die katholische Kirche tut sie sich lange schwer mit dem Gedenken an ihn. Erst 1993 wird er durch den damaligen Lübecker Bischof Karl Ludwig Kohlwage rehabilitiert. Papst Benedikt XVI. spricht die katholischen Kapläne am 25. Juni 2011 selig. Weil die evangelische Kirche dies nicht kennt, erhält Stellbrink ein "ehrendes Gedenken". Mittlerweile erinnern regelmäßig beide Konfessionen gemeinsam an die Lübecker Märtyrer. Stellbrinks Urne ist in der Lübecker Lutherkirche beigesetzt, wo auch eine Gedenkstätte eingerichtet ist.