Zwei Möwen kreisen kreischend über die Steilküste. Die Fischerboote unten im Hafen sehen heute nicht nach harter Arbeit aus. Doch nicht immer lässt die Sonne das kleine Küstenstädtchen in Englands Nordosten so friedlich-freundlich erscheinen wie an diesem strahlenden Sommertag. Etwa in jener bösen Sturmnacht, als einer der schauerlichsten Schurken der europäischen Literaturgeschichte hier von Bord der "Demeter" ging und als schwarzer Hund die 199 Stufen zur Abteiruine hinaufhetzte. Die Besatzung des Schiffes war ausgestorben. Ausgesaugt. Zumindest wenn es nach Bram Stoker geht.
Der einwöchige Besuch Stokers in Whitby im Juli 1890 muss den Schriftsteller aus Irland tief beeindruckt haben: die riesige gotische Ruine oben auf dem Hügel, wüst romantisch und nachts ganz sicher nicht frei von Fledermäusen. Dazu der Friedhof der nahe gelegenen St. Mary's Parish Church. Steil an der Klippe; die Grabsteine verwittert, gruselschief und mit ganz viel Grünspan. Auf einem von ihnen steht der Name "Swales". So wie das erste Opfer des siebenbürgischen Grafen Dracula auf englischem Boden.
Dracula ist ihm in Irland begegnet
Beim Schmökern in der Bibliothek von Whitby soll Stoker sogar überhaupt auf den Protagonisten seines Schauerromans gekommen sein.
Zumindest die Überlieferung des Ortes will, dass er dort auf den Bericht eines einstigen britischen Diplomaten über Siebenbürgen gestoßen sei. Dieser schrieb unter anderem über die angebliche Grausamkeit eines walachischen Fürsten namens Vlad, genannt "Tepes" (der Pfähler) oder "Draculea" (Sohn des Drachen). Dieser historische Vlad III. (um 1431-1476/77) wurde zu Stokers untotem "Grafen Dracula".
Tourismus trifft englischen Humor
Unnötig zu sagen, dass Whitby von seinem literarischen Erbe heute ordentlich profitiert - aber auch genervt ist. Es gibt Gothic-Treffen und Dracula-Shows, und - natürlich! - wurde mehr als einmal von übernatürlichen Phänomenen am Ort berichtet. Doch wer den englischen Humor kennt und schätzt, mag auch ahnen, dass der ein oder andere Bewohner die Antwort auf allzu exaltierte Touristenfragen nicht schuldig bleiben wird.
1897 erschien Stokers Roman "Dracula" im Londoner Verlag "Archibald Constable and Company". Fast sieben Jahre lang hatte er akribisch daran gearbeitet. Wie detailversessen der irische Protestant dabei vorging - wenn er auch nie selbst in Siebenbürgen war -, haben Literaturwissenschaftler nachgewiesen. So war 1885, fünf Jahre vor Stokers Besuch in Whitby, dort ein russisches Schiff namens "Dmitry" vor der Küste zerschellt; Inspiration für Draculas "Demeter". Selbst die Zugfahrten, mit denen der Romanheld, der Londoner Rechtsanwalt Jonathan Harker, den Vampir durch England verfolgte, waren im aktuellen Kursbuch recherchiert.
Selber schwer geschädigt
Bram Stoker, vor 175 Jahren, am 8. November 1847, geboren, war fasziniert von der Idee von Untoten, die tagsüber im Sarg verharren müssen - und zwar aus mehr persönlicher Betroffenheit, als man ahnen mag. Bis zu seinem siebten Lebensjahr war er selbst quasi bewegungsunfähig gewesen, konnte weder gehen noch ohne Hilfe stehen.
Das unbekannte Leiden verschwand, ebenso unerklärlich, wie es gekommen war; und Stoker legte sogar noch eine respektable Sportlerlaufbahn hin. Als Justizbeamter war er unglücklich, wollte lieber Autor sein. Sein Gruselroman machte ihn bekannt - aber keineswegs reich.
Untoten-Merchandise 2.008 Kilometer entfernt
2.008 Kilometer Luftlinie südöstlich von Whitby ein ähnliches Bild: Dracula-T-Shirts, Bieruntersetzer und jede Menge Selfies vor dem angeblichen Geburtshaus Draculas in Sighisoara (deutsch Schässburg).
Das "Rothenburg Siebenbürgens", über Jahrhunderte Hort deutschsprachigen Humanismus, konnte sich in den neukapitalistischen 2000er Jahren nur knapp eines geplanten riesigen Dracula-Vergnügungsparks erwehren. Ist "der Pfähler" tatsächlich in den 1430er Jahren hier aufgewachsen? Wenn man es nur genug will...
Nach den Türken die Touristen
Noch stärker mit dem Virus draculensis befallen ist die Törzburg in Bran in der Nähe von Brasov (Kronstadt). Am Durchbruch der Karpaten Ende des 14. Jahrhunderts errichtet, um die von Süden eindringenden Türken abzuwehren, hat die malerische Musterburg am Ende ebenso wenig standgehalten wie dem internationalen Touristenstrom von heute. Dabei ist auch hier ein Dracula-Bezug keineswegs gesichert. Allerhöchstens wäre Vlad Tepes, statt hier zu herrschen, dort selbst wegen Verrats von Ungarns König Matthias Corvinus für eine Zeit eingesperrt gewesen.
Blutleerer Plastik-Nippes beherrscht vor der Törzburg die Szenerie. Vampir-Equipment, Marien-Kitsch und Teletubbies rücken gefährlich nah aneinander. Zum Glück gibt es in den alten siebenbürgischen Straßendörfern entlang dem Karpatenrand aber auch immer noch die schönen, reellen Dinge zu kaufen: Zwiebeln, Honig, Zacusca - und viel Knoblauch.