Aus dieser Initialzündung entstand eine wirkmächtige katholische Soziallehre - und in ihrer Folge das Modell der Sozialen Marktwirtschaft, das die Bundesrepublik bis heute prägt. Am 25. Dezember 1811, vor 200 Jahren, wurde Ketteler in Münster geboren.
Wenige Monate vor seinem Tod schrieb Wilhelm Emmanuel von Ketteler in der Rückschau auf seine Zeit als Parlamentarier verbittert nieder: "Der Liberalismus hat völlig gesiegt." Für ein solch düsteres Fazit gibt es in historischer Perspektive keinen Grund. Seine Weitsicht und Gestaltungskraft machten ihn zu einer der wichtigsten Bischofsgestalten des 19. Jahrhunderts. Zunächst hatte der Sohn eines westfälischen Adelsgeschlechts die Beamtenlaufbahn eingeschlagen. Doch im Zuge der Verhaftung des Kölner Erzbischofs Droste zu Vischering durch die preußischen Behörden 1837 quittierte er mit 26 Jahren den Staatsdienst. Er entschied sich für das Priestertum und übernahm 1846 die Pfarrei im armen münsterländischen Dorf Hopsten.
Wie ein Weckruf
1848, im selben Jahr, in dem Karl Marx das Gespenst des "Kommunistischen Manifests" in Europa umgehen ließ, machte der "Bauernpastor" Ketteler auf dem ersten deutschen "Katholikentag", als Abgeordneter in der Frankfurter Paulskirche und in Adventspredigten im Mainzer Dom erstmals mit Ausführungen zur "sozialen Frage" auf sich aufmerksam. Die Verelendung weiter Teile der Bevölkerung durch die Industrielle Revolution nannte er die "wichtigste Frage der Gegenwart".
Seine Predigten gingen wie ein Weckruf durch die katholische Welt. Allerdings vertraute Ketteler in dieser Frühphase noch allzu stark auf eine sittliche Erneuerung der Gesellschaft durch die Kirche. Dieses Vertrauen appellierte an den besseren Menschen, ließ jedoch die wirtschaftlichen Verhältnisse unangetastet und verstellte so den Blick auf notwendige sozialpolitische Maßnahmen.
Kaum ein halbes Jahr lang Propst an der Berliner Hedwigskirche, erreichte Ketteler die Ernennung zum Mainzer Oberhirten. Als "Arbeiterbischof" erkannte er dort als entscheidende Themen der Zukunft die Freiheit der Kirche von staatlicher Bevormundung und ihre Abgrenzung gegenüber Liberalismus und Kommunismus. Doch er wusste auch, dass mit einer bloßen Verteufelung des Bestehenden weder die soziale Frage noch die der Kirchenfreiheit zu lösen war.
Lösungen mussten innerhalb des Systems gefunden werden. Und dafür musste sich die Kirche in die Politik begeben. Mit diesem Kurs wies Ketteler der katholischen Zentrumspartei den Weg. Seine 27 Bischofsjahre waren reich an mutigen und richtungsweisenden Entscheidungen, zuweilen aber auch bitteren Rückschlägen und Enttäuschungen.
Nährboden für den aufziehenden Kulturkampf
Sein Versuch, als Reichstags-Abgeordneter einen für die Kirche günstigen Einfluss auf die künftige Reichverfassung zu nehmen, scheiterte am Widerstand der Liberalen. Sie benutzten die zeitgleich stattfindende Debatte des Ersten Vatikanischen Konzils um die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit als Gesinnungskeule gegen die deutschen Bischöfe. Zur Sippenhaft bestand freilich kein Anlass: Ketteler selbst hielt das Dogma für nicht genügend diskutiert.
Zurück in Deutschland, schuf die Frontstellung zwischen den antikatholischen Liberalen und den mit der Verfassung unzufriedenen Katholiken den Nährboden für den aufziehenden Kulturkampf. In der Debatte über den "Kanzelparagrafen" hat der Abgeordnete Ketteler am 23. November 1871 zum letzten Mal das Wort ergriffen. Im März 1872 legte er resigniert sein Mandat nieder.
Auf der Rückreise von den Feierlichkeiten zum 50. Bischofsjubiläum von Papst Pius IX., dem Ketteler trotz mancher Bitternis immer die Treue hielt, zog er sich im Juni 1877 eine schwere Erkältung zu, der er am 13. Juli im bayerischen Kapuzinerkloster Burghausen erlag. Als Papst Leo XIII. 14 Jahre später die berühmte erste Sozialenzyklika der Kirche, "Rerum novarum", vorlegte, nannte er Ketteler seinen "großen Vorgänger".
Vor 200 Jahren wurde "Arbeiterbischof" Ketteler geboren
Der große Vorgänger
Wilhelm Emmanuel von Ketteler war von 1850 bis zu seinem Tod im Jahr 1877 Bischof von Mainz. Der amtierende Mainzer Bischof Karl Lehmann bescheinigt ihm "größte Verdienste" für die Kirche in Deutschland und auch für die Weltkirche. Denn es war gerade der Mainzer "Arbeiterbischof", der seiner Kirche in Zeiten großen Elends den Weg in ihre sozialpolitische Verantwortung wies.
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