Vor 200 Jahren wurde der Sozialreformer Raiffeisen geboren

Vom "Brodverein" zur Genossenschaftsbank

​Die Not der Landbevölkerung machte ihm zu schaffen. Um sie zu lindern, erfand er die Genossenschaft: Friedrich Wilhelm Raiffeisen - geboren vor 200 Jahren an der Sieg - sah Hilfe für Arme als Christenpflicht an.

Autor/in:
Angelika Prauß
200. Geburtstag von Friedrich Wilhelm Raiffeisen / © Thomas Frey (dpa)

Die Bauernbefreiung ist im vollen Gang, die ländliche Bevölkerung leidet in der Umbruchzeit Not. Mittendrin ist einer überzeugt, "dass die höchst traurigen Zustände unserer Zeit in erster Linie dem Abfalle vom Christenthume zuzuschreiben seien und dass die sozialen Verhältnisse einzig und allein nur durch Bethätigung des christlichen Glaubens in der Liebe wieder geregelt werden könnten". Das sagt kein Theologe oder Kirchenmann. Es war Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Bürgermeister verschiedener Westerwaldgemeinden, der Vater der Genossenschaftsidee.

Am 30. März 1818, vor 200 Jahren, wurde der Sozialreformer in Hamm an der Sieg geboren. Schon sein Vater war Landbürgermeister. Neben der Volksschule bekam Friedrich Wilhelm auch Unterricht von seinem Patenonkel, einem evangelischen Pfarrer. Mit 17 begann Raiffeisen eine Offizierslaufbahn, die er allerdings wegen eines Augenleidens schon 1843 beenden musste. Daraufhin wurde Raiffeisen von der preußischen Kommunalverwaltung als Kreissekretär nach Mayen in der Eifel versetzt und trat dort in die Fußstapfen seines Vaters.

Geburtsttunde der Genossenschaftsidee

Ab 1845 war er für drei Jahre Bürgermeister von Weyerbusch im Westerwald. Von Beginn an setzte er sich für bessere Lebensverhältnisse der Bevölkerung ein, sorgte für Aufforstung und trieb den Bau der Westerwaldbahn voran. Damit die Bauern ihre Ernte besser vermarkten konnten, veranlasste er den Bau einer 60 Kilometer langen Straße zum Rhein. Weyerbusch bekam eine richtige Schule. Dann kam die erste große Bewährungsprobe: Bedingt durch Kartoffelfäule und Missernten herrschte im Winter 1846/47 auch im Westerwald bittere Not.

Um die Ärmsten vor dem Hungertod zu bewahren, beantragte der Bürgermeister bei der preußischen Regierung Getreidemehl. Dieses Mehl hätte er eigentlich nur gegen Bezahlung ausgeben dürfen. Raiffeisen setzte sich darüber hinweg - und läutete damit die Geburtsstunde der Genossenschaftsidee ein: Denn er verteilte das aus der Mehlspende gebackene Brot auf Kredit; die Armen mussten das Geld erst nach überstandener Hungersnot zurückzahlen. Dank Spenden wohlhabender Gemeindemitglieder konnte Raiffeisen die Kornladungen dennoch bar bezahlen. 1846 gründete der umtriebige Bürgermeister daraufhin den "Brodverein".

 

 

Verzicht auf Gewinne

1848 wurde Raiffeisen Bürgermeister in Flammersfeld. Auch hier und an späterer Wirkungsstätte setzte er sein soziales Engagement fort. Er gründete den "Flammersfelder Hülfsverein", damit mittellose Bauern zinsgünstige Kredite zum Kauf von Vieh und Maschinen bekamen. Der "Heddesdorfer Wohlthätigkeitsverein" kümmerte sich auch um den Aufbau einer Volksbibliothek, die Betreuung notleidender Kinder und um Strafentlassene. All dies funktionierte, weil die Wohlhabenden für die zu einem geringen Zinssatz herausgegebenen Kredite hafteten - Raiffeisen sah das als "Christenpflicht" an.

Nach einer Zeit allerdings verringerten die wohlhabenden Bürger ihre Unterstützung; Raiffeisen musste seine Vereine auf der Basis gegenseitiger Selbsthilfe umstrukturieren und sich auf das reine Kreditgeschäft beschränken. Dennoch glaubte er an seine Mission: An die Stelle der alten Ordnung sollte eine auf christlicher Verantwortung basierende Gemeinschaft entstehen. Deshalb verzichteten die Raiffeisen-Vereine auch auf Dividendenausschüttung; sämtliche Gewinne flossen in einen Stiftungsfonds, aus dem soziale Einrichtungen unterstützt wurden - Krankenhäuser, Altersheime, Kindergärten.

Vorbild für Genossenschaftsbanken

1865 wurde Raiffeisen mit nur 47 Jahren wegen seines Augenleidens pensioniert. Dennoch engagierte er sich weiter und blieb seiner Heimat bis zu seinem Tod verbunden. Seine Grundidee der Genossenschaften indes breitete sich über ganz Europa aus. Der von Raiffeisen 1862 gegründete "Heddesdorfer Darlehnskassenverein" wurde Vorbild vieler Genossenschaftsbanken, von denen es heute 330.000 weltweit gibt.

Allein in Deutschland existieren derzeit über 2.500 Raiffeisen-Genossenschaften. Raiffeisen war zugleich Vorreiter für kirchliche Darlehensgenossenschaften wie Pax-Bank und Steyler Bank.