Vor 25 Jahren äußerte sich Rom zur Befreiungstheologie

Der Marxismusverdacht

Ein harmlos klingender Titel mit gewaltiger innerkirchlichen Sprengkraft: "Instruktion über einige Aspekte der Theologie der Befreiung" hieß das Papier, das die römische Glaubenskongregation an diesem Donnerstag vor 25 J. herausgab.

Autor/in:
Michael Jacquemain
 (DR)

Mit ihrem Dekret wollte die vom damaligen Kurienkardinal Joseph Ratzinger geleitete vatikanische Behörde die lateinamerikanischen Theologen in ihre Schranken weisen. Rom fürchtete einen marxistischen Einfluss auf die Ortskirchen zwischen Mexiko und Feuerland.

Rückblende: Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein stand die katholische Kirche Lateinamerikas meist auf Seiten der Mächtigen, unterstützte Despoten und Militärdiktaturen. Ab den 1960er Jahren entstand dann vor allem in den Basisgemeinden Brasiliens eine Gegenbewegung. Sie wollte der «Stimme der Armen» Gehör verschaffen und wandte sich gegen Entrechtung und Unterdrückung. Dieser spektakulären Neupositionierung von unten schlossen sich die Bischöfe Lateinamerikas bei ihren Vollversammlungen 1968 in Medellin und 1979 in Puebla an. Mit päpstlicher Zustimmung wurde die «Option für die Armen» zum Programm. Ihren Namen verdankt die Bewegung dem 1971 erschienenen Buch «Teologia de la liberacion» des Peruaners Gustavo Gutiérrez.

Theologen als Werkzeug für den Klassenkampf?
Im Kern ging es im Streit mit Rom um die mehr wissenschaftstheoretische als theologische Frage, wie die von den Befreiungstheologen vorgenommene Analyse der politischen und wirtschaftlichen Strukturen eines Landes, die sogenannte Dependenztheorie, zu beurteilen ist. Unbestritten ist, dass marxistisch inspirierte Elemente Teil dieser Analyse sind. Völlig gegensätzliche Ansichten gab es über die Einschätzung, was das heißt: Wird so der Theologe zum marxistischen Politologen, zum Werkzeug für den Klassenkampf? Oder ist es Theologen erlaubt, so zu arbeiten, weil sie sowieso von einer anderen Grundlage ausgehen als etwa Soziologen?

In der Instruktion heißt es, dass die Befreiungstheologie «schwerwiegend vom Glauben der Kirche abweicht, mehr noch, dessen praktische Leugnung bedeutet». Die Bibel werde auf ihre politische Botschaft verkürzt, dem Tod Christi eine «ausschließlich politische Deutung» gegeben, die Eucharistie «zur Feier des Volkes in seinem Kampf». Ratzinger macht reihenweise Anleihen an den Marxismus aus. Zugleich schränkt er ein, dass er nicht die verurteilen wolle, die sich im Geist des Evangeliums um die Armen kümmerten. Trotzdem begann eine polemische Debatte.

Dies lag zu einem guten Teil daran, dass das Vatikan-Papier weder Ross noch Reiter nennt und so einen Generalverdacht nährte. Theologen sprachen denn auch von einem römischen Alptraum, den es in Wirklichkeit nicht gebe. Die kritisierten Äußerungen seien keinesfalls repräsentativ für die Befreiungstheologie. So geißelt die Instruktion etwa die marxistischen Systeme als «Schande unserer Zeit», obwohl - von den nicaraguanischen Priester-Ministern um Ernesto Cardenal abgesehen - kein renommierter Befreiungstheologe je mit dem damals noch real existierenden Sozialismus Osteuropas geliebäugelt hatte.

Die "Wiedergutmachung" folgte bald
Verständlich wird der harsche und undifferenzierte Umgang Roms mit der Befreiungstheologie nur vor dem weltpolitischen Hintergrund des damaligen Ost-West-Konflikts und vielleicht auch wegen eines Papstes, der selbst aus einem Land hinter dem Eisernen Vorhang stammte. 1986 veröffentlichte der Vatikan ein weiteres Papier zur Befreiungstheologie. Es war eine Art Wiedergutmachung. Denn nun wird deutlich, dass im ersten Text tatsächlich nur «einige Aspekte» der Diskussion beleuchtet wurden. Ausdrücklich werden gut eineinhalb Jahre später die Anliegen der Befreiungstheologen gewürdigt, und es wird eine positive Sicht des katholischen Freiheits- und Befreiungsverständnisses entfaltet. Johannes Paul II. nannte die Befreiungstheologie «nützlich und notwendig».

Auch Benedikt XVI. ließ auf seiner Brasilienreise 2007 ebenso wie in seiner Sozialenzyklika «Caritas in Veritate» keinen Zweifel daran aufkommen, dass auch er hinter dem Einsatz für die Verelendeten und zur «Vorrangigen Option für die Armen» steht. In Zeiten der Globalisierung geht es den Befreiungstheologen indes vor allem um eine stärkere Vernetzung zwischen den verschiedenen kontinentalen Strömungen der Basisgemeinschaften. Denn de facto ist die «Option für die Armen» heute nicht nur in Süd- und Mittelamerika, sondern in den meisten Ländern auf der Südhalbkugel gängige kirchliche Praxis.