Es wurde als sicheres Medikament gegen Schlaflosigkeit angepriesen. Doch bei Schwangeren hatte die Einnahme von Contergan verheerende Folgen: Sie führte zu Totgeburten und Missbildungen bei Tausenden von Säuglingen. Vor 50 Jahren - am 27. Mai 1968 - begann der Prozess um das Medikament, das die Herstellerfirma Grünenthal in Aachen elf Jahre zuvor auf den Markt gebracht hatte.
Weltweit kam es in der Folge zu Totgeburten und bei etwa 5.000 bis 10.000 Kindern zu Missbildungen wie fehlenden oder verkürzten Armen und Beinen. Erst 1961 verdichtete sich der Verdacht, dass der Wirkstoff Thalidomid die Ursache ist. Am 27. November 1961 nahm Grünenthal das Präparat vom Markt. Nach wie vor streitet der Bundesverband Contergangeschädigter mit der Herstellerfirma und der Eigentümerfamilie Wirtz um die Anerkennung von Schuld.
Verfahren wegen "geringfügiger Schuld" eingestellt
Auf der Anklagebank saßen ursprünglich neun und zuletzt fünf Personen, die von fast 20 Strafverteidigern anwaltlich vertreten wurden. Die Anklage wegen vorsätzlicher Körperverletzung und fahrlässiger Tötung wurde aber schon am 10. April 1970 nach 283 Verhandlungstagen vom Landgericht Aachen fallengelassen und das Verfahren wegen "geringfügiger Schuld" eingestellt. Zuvor war es zu einem zivilrechtlichen Vergleich gekommen. Dabei hatten der Hersteller und der Bund jeweils 100 Millionen Mark als Entschädigung gezahlt - ein Grundstock für die Conterganstiftung, deren Finanzmittel und Leistungen für die Betroffenen mehrfach erhöht wurden. Ein weiterer und für viele Opfer schwer zu ertragender Inhalt des Vergleichs: der Verzicht auf jede weitere Klage gegen Grünenthal.
Eine 2016 vorgestellte Studie der nordrhein-westfälischen Landesregierung zur Aufarbeitung des Skandals belegt, dass die Gesundheits- und Justizbehörden eine schwache Figur abgaben. Wegen der damaligen Rahmenbedingungen für die Medikamentenzulassung habe es den Landesbehörden "massive Schwierigkeiten" bereitet, die Wirkung von Contergan zu klären, die Zahl der Betroffenen festzustellen und das Schlafmittel verbieten zu lassen.
Endlich der Verantwortung stellen
Zugleich weist die Untersuchung darauf hin, dass die Behörden Grünenthal völlig unterlegen waren. Als erste schwere Nebenwirkungen von Contergan beobachtet worden seien, habe der Hersteller mit "gezielter Desinformation und Verzögerungstaktiken" versucht, das Mittel am Markt zu halten. Das Unternehmen habe "erheblich schneller größere Ressourcen mobilisieren" können als staatliche Stellen - etwa durch kostspielige Anwälte. Kritischen Beamten sei Grünenthal umgehend mit Dienstaufsichtsbeschwerden und Schadensersatz-Androhungen entgegengetreten.
Der Bundesverband Contergangeschädigter fordert das Unternehmen auf, sich "endlich" seiner Verantwortung zu stellen. Der Verein wirft Grünenthal vor, den Skandal nur als Folge einer "Tragödie" zu beschreiben und nicht als Resultat eigenen schuldhaften Handelns. Demgegenüber betont Grünenthal, dass die Firma bereits über 100 Millionen Euro in die Conterganstiftung zur Entschädigung der Opfer eingezahlt habe. Auch habe sich das Unternehmen am 31. August 2012 durch den damaligen Geschäftsführer Harald F. Stock bei den Betroffenen und deren Familien für deren Leiden und das lange Schweigen der Firma entschuldigt. Überdies sei im selben Jahr die Grünenthal-Stiftung gegründet worden, die Contergan-Opfer über die Leistungen der Conterganstiftung hinaus unterstütze.
Entschädigungen durch Stiftung
Die Leistungen der Stiftung belaufen sich seit 1972 geschätzt auf rund eine Milliarde Euro. Deren monatlichen Zahlungen wurden schrittweise erhöht, aber erst 2013 auf ein deutlich höheres und auskömmliches Niveau angehoben. Conterganopfer kritisieren, dass dies nur aus Steuergeldern und ohne Beteiligung von Grünenthal erfolge. Heute liegen die Conterganrenten zwischen 675 und 7.620 Euro.
Die weltweit noch rund 2.700 Contergangeschädigten, davon etwa 2.400 aus Deutschland, gehen nun auf die 60 zu. Viele leiden wegen der jahrzehntelangen Fehlbelastung von Wirbelsäule, Gelenken und Muskulatur unter Folgeschäden. Neuerdings beunruhigen Hinweise, dass bei einem Teil der Betroffenen Blut- und Nervenbahnen nicht an den üblichen Stellen liegen, was bei Operationen das Risiko unbeabsichtigter Durchtrennungen erhöht. Eine Studie soll Aufklärung bringen.
Andreas Otto