Vor 60 Jahren wurde die Lebenshilfe gegründet

Endlich Ansprechpartner und Unterstützung

Die Schwächsten haben keine Lobby. Das galt in den 1950er Jahren auch für geistig behinderte Kinder. Ein Pädagoge ließ sich von ihrem Schicksal anrühren und gründete eine Interessenvertretung: die Lebenshilfe.

Autor/in:
Birgitta Negel-Täuber
Zuversicht auch dank der "Lebenshilfe" / © Kolja Matzke (KNA)
Zuversicht auch dank der "Lebenshilfe" / © Kolja Matzke ( KNA )

Geistig beeinträchtigte Menschen, die Cafes und Schwimmbäder besuchen, einkaufen gehen und - mit Unterstützung - ihr eigenes Leben leben: Heute erscheint das beinahe selbstverständlich.

Behinderte als gesellschaftlicher Makel

Vor 60 Jahren war es das nicht, im Gegenteil: Der Nationalsozialismus mit seinem Euthanasie-Programm lag gerade 13 Jahre zurück, und die ablehnende Haltung gegenüber geistig Behinderten war in weiten Teile der Bevölkerung fest verankert. Manche Familien versteckten ihre behinderten Angehörigen geradezu, galten sie doch als gesellschaftlicher Makel.

Die traurigen Lebensverhältnisse geistig behinderter Kinder erlebte der niederländische Pädagoge Tom Mutters hautnah. Als UNO-Beauftragter für "Displaced Persons" war er ab 1952 für die Betreuung von 50 geistig behinderten Kindern im hessischen Goddelau zuständig - und zugleich erschüttert über das Elend, das er dort sah. Teilweise festgebunden und völlig verdreckt vegetierten die Kinder vor sich hin.

Auf einen Zeitschriftenaufsatz zur Situation geistig behinderter Kinder in Deutschland, den er 1958 veröffentlichte, meldete sich ein betroffener Vater bei ihm. Weitere folgten. Mutters selbst nahm Kontakt zu Fachleuten auf, und bei einem Treffen in Marburg gründeten die 15 Teilnehmer am 23. November 1958 die "Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind". Die Arbeit mit anderen Altersgruppen führte im Jahr 1996 zu einer Namensänderung, seitdem heißt der Verein "Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V.".

Endlich ein Ansprechpartner

Für Eltern, die bis dahin alleingelassen waren mit der Sorge für ihre Kinder, war der neue Verein von unschätzbarem Wert, hatten sie jetzt doch Ansprechpartner und konnten sich gegenseitig unterstützen. In rascher Folge gründeten sich die ersten Ortsvereine, beim zehnjährigen Jubiläum waren es bereits über 300. Heute zählt die Lebenshilfe 502 Ortsgruppen und 16 Landesverbände mit mehr als 125.000 Mitgliedern und über 4.300 Diensten und Einrichtungen.

Anfangs ging es vor allem darum, die Behörden zur Gründung von Sonderkindergärten und Tagesstätten zu bewegen. Für die Eltern war das jedesmal ein Kraftakt, und obendrein mit Kosten verbunden: Gesunde Kinder konnten die Volksschule kostenfrei besuchen.

Die tragischen Folgen des Contergan-Skandals befeuerten die öffentliche Diskussion: Anfang der 1960er Jahre wurden allein in Deutschland geschätzt 4.000 Kinder mit schweren Schädigungen geboren, die auf das Beruhigungsmittel zurückzuführen waren. Behinderung bekam dadurch einen gesellschaftlichen Aspekt und führte 1963 zur Gründung der "Aktion Sorgenkind". Von Anfang an war diese Initiative für die Lebenshilfe ein wichtiger Förderer.

Hilfe zur Selbsthilfe

Die Lebenshilfe will Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Menschen mit geistigen Behinderungen sollen befähigt werden, so weit und so lange wie möglich ein eigenständiges Leben zu führen. Die schrittweise Einführung der Schulpflicht für geistig und schwer mehrfach behinderte Kinder ab den 1960er Jahren war dabei ein Meilenstein.

Diskriminierung und Ausgrenzung sind bis heute nicht verschwunden, das zeigt eine Anfrage der AfD vom 23. März 2018. Die wollte wissen, ob die Behindertenzahlen seit 2012 zugenommen hätten und verknüpfte in ihrer Anfrage Behinderung mit Migration und Inzucht.

Sozialverbände aus ganz Deutschland, darunter die Lebenshilfe, zeigten sich entsetzt und reagierten mit einer großformatigen Zeitungsanzeige. Darin fühlten sie sich "an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte" erinnert.

Trotzdem zeigen 60 Jahre Einsatz für Menschen mit geistiger Behinderung nachhaltige Wirkung: Gemeinnützige Werkstätten bieten behinderten Menschen angemessene Arbeitsplätze und sind akzeptierte Partner der Industrie. Wohnheime der Lebenshilfe ersetzten im Laufe der Jahre die Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern.

Und ein differenziertes Angebot von stationären Wohngruppen, betreutem Wohnen und Wohngemeinschaften ist mittlerweile deutschlandweit Standard. Vor allem die Präsenz geistig beeinträchtigter Menschen in der Öffentlichkeit trägt dazu bei, Vorurteile abzubauen. Das ist vielleicht das größte Verdienst der Lebenshilfe.


Papst Franziskus bei einem Treffen mit behinderten Menschen / © Paul Haring/CNS photo (KNA)
Papst Franziskus bei einem Treffen mit behinderten Menschen / © Paul Haring/CNS photo ( KNA )
Quelle:
KNA