KNA: Herr Benz, was bedeutete der 30. Juni 1942 genau?
Wolfgang Benz (Zeithistoriker und ehemaliger Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin): Das war der letzte Tag, an dem jüdische Schüler in Deutschland unterrichtet wurden. Das kam nicht plötzlich, es gab auch nicht mehr viele Juden. Es war eine Entwicklung, die 1933 begann: nämlich die schrittweise, systematische Ausgrenzung von Juden.
KNA: Was war geschehen, bevor die Schulen geschlossen wurden?
Benz: Es begann im April 1933 mit dem Gesetz "zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums". Damit wurden jüdische Lehrer aus dem Dienst entfernt. Ebenfalls im April 1933 ging es weiter mit dem Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen. Das heißt, ein Numerus clausus gegen Juden wurde eingeführt. Es sollten nicht mehr als maximal 1,5 Prozent der Schüler und Studenten Juden sein.
KNA: Wie ging es danach weiter?
Benz: Der nächste Schritt war im September 1935 erreicht - wenige Tage vor den berüchtigten Nürnberger Gesetzen zur Rassentrennung. Jetzt durften jüdische Schüler nicht mehr in öffentlichen Schulen unterrichtet werden, und es wurden eigene Volksschulen für Juden vorgeschrieben. Das ist der entscheidende Zeitpunkt in der Diskriminierung jüdischer Schüler. Die jüdischen Schulen existierten zum großen Teil gar nicht, obwohl deklariert war, dass Juden nur in jüdischen Schulen unterrichtet werden durften. Diese gab es zwar in großen Städten wie Frankfurt, Hamburg oder Berlin, aber nicht in einem Dorf. Die Schulen sollten gegründet werden - was aber mindestens 20 Schüler voraussetzte. Oder die Kinder und Jugendlichen mussten über weite Strecken irgendwohin fahren.
KNA: Wer hatte die Kosten zu tragen?
Benz: Diese Aufgabe fiel den Juden zu. Das bedeutete neben der alltäglichen Diskriminierung, dass ein großer Teil der höheren Schüler die Gymnasialbildung abbrach, die nicht von der Schulpflicht erfasst waren. Auf höhere Bildung gab es keinen Anspruch mehr.
KNA: Und was geschah mit den Volksschulen?
Benz: Für die Volksschulen, also die Grund- und Hauptschulen, sollten eigene jüdische Einrichtungen aufgebaut werden. Wenn das nicht möglich war, konnten nach einer Verordnung vom Juli 1937 gesonderte Klassen in öffentlichen Schulen errichtet werden, wo jüdische Lehrer oder sogenannte Mischlinge Unterricht erteilten. Diese Klassen durften bis 1938 bestehen bleiben. Nach der "Reichskristallnacht" wurde verfügt, dass alle jüdischen Schüler aus Volks- und höheren Schulen ausgeschlossen werden und in jüdische Schulen gehen mussten. Die Lehrer kamen aus den jüdischen Gemeinden.
KNA: In welcher Lage waren jüdische Schüler und Lehrer nach 1938?
Benz: Ab den Novemberpogromen bestand jüdisches Leben in Deutschland vor allem aus der Suche nach Fluchtmöglichkeiten. Jetzt war auch denen, die zunächst nicht glauben wollten, wie schlimm es werden würde, klar: Man hat nur noch eine Chance, wenn man Deutschland verlassen kann. Es begann eine Massenauswanderung, und damit verringerte sich auch die Zahl der jüdischen Schulpflichtigen. Es waren im Schuljahr 1932/33 ungefähr 60.000; 1938/39 waren es noch etwa 20.000. Und die Zahl nahm ab 1939 weiter rapide ab.
KNA: Spielte in dieser Zeit der Schulbesuch überhaupt eine Rolle?
Benz: Die Auswanderung beherrschte das Leben etwa bis 1941, als der Judenstern eingeführt wurde. Zuvor gab es die Ghettoisierung in "Judenhäusern", ab Herbst 1941 begannen die Deportationen in den Osten. Schulpflicht spielte für diese diskriminierte Minderheit schon keine große Rolle mehr. Es waren vielleicht noch rund 10.000 schulpflichtige Juden, die von der Schließung von Schulen 1942 betroffen waren.
KNA: Gab es so etwas wie Untergrundschulen?
Benz: Nein. Man darf sich den Untergrund nicht so vorstellen, als habe es da viele Kinder gegeben. Die Lage nach dem 30. Juni 1942 war von angstvollem Warten auf den Deportationsbescheid gekennzeichnet. Auswanderung war verboten. Das Reich illegal zu verlassen, war zu diesem Zeitpunkt fast unmöglich. Es waren ganz wenige, die in den Untergrund gingen. Mit Kindern war das Leben in der Illegalität noch schwieriger. Der Fall Anne Frank, das versteckte Leben im Hinterhaus, ist relativ singulär. Das gab es nicht tausendfach.
KNA: Wie sah es nach dem Zweiten Weltkrieg aus?
Benz: Nach dem Krieg gab es jüdisches Leben in Deutschland wie nie zuvor. Denn die aus den Lagern befreiten Überlebenden und zusätzlich Juden aus Osteuropa sammelten sich in Deutschland. Nicht aus Liebe zu den Deutschen oder aus Heimweh, sondern sie wollten in die Obhut der amerikanischen Armee. Zum Teil auch unter britischer Obhut sammelten sie sich in Lagern für "displaced persons", große Siedlungskomplexe, und warteten auf Auswanderungsmöglichkeiten. In den "DP"-Lagern wurde auch unterrichtet.
KNA: Die Menschen hatten viel nachzuholen...
Benz: Die aus den Lagern Zurückgekehrten hatten in der Regel riesige Lücken und versuchten, sie so gut es ging zu schließen, um sich auf eine Auswanderung vorzubereiten. Die Lager der "displaced persons" leerten sich schlagartig nach der Gründung des Staates Israel. Das jüdische Leben in Deutschland kam zwar nicht zum Stillstand, aber es blieb nicht viel übrig. Danach gab es noch jüdisches Leben und Bildungseinrichtungen vor allem in München, Frankfurt und West-Berlin. Neue Schulgründungen erfolgten erst allmählich mit der Konsolidierung jüdischen Lebens nach der Wende von 1989/1990.
KNA: Blicken wir auf die Gegenwart: Sind jüdische Schulen auch eine Art Schutzraum für Schüler, die anderswo wegen ihres Glaubens diskriminiert werden?
Benz: Die öffentliche Diskriminierung ist für Juden in Deutschland Gottseidank ziemlich gering. Wenn es einen Fall gibt wie unlängst an einer Berliner Schule, dann ist zu Recht die ganze Nation in Aufruhr. Jede Gemeinschaft, auch Katholiken und Protestanten, haben das Bedürfnis, Schulen für Gläubige im Geiste der Gemeinschaft zu unterhalten. Natürlich muss Schule ein geschützter Ort sein. Dass jüdische Schulen in Deutschland als Hochsicherheitstrakte geführt werden, ist eine beklagenswerte Erscheinung - aber vermutlich nicht zu ändern, ähnlich wie auch andere jüdischen Einrichtungen unter Polizeischutz stehen. Denn die Mehrheitsgesellschaft will und darf sich nicht nachsagen lassen, Juden seien nicht sicher in Deutschland.
Das Gespräch führte Leticia Witte.