DOMRADIO.DE: Wer hat denn die Nase vorn?
Marion Sendker (DOMRADIO.DE-Korrespondentin in Istanbul): Da muss man differenzieren: Am Sonntag wird ja ein neuer Präsident gewählt und das Parlament. Zur Präsidententwahl: Sollte keiner der Kandidaten mehr als 50 Prozent kriegen, gibt es am 8. Juli eine Stichwahl zwischen den beiden besten. Wer grade wo steht, kann man nicht so gut sagen, denn hier gilt, dass man zehn Tage vor der Wahl keine Umfragen mehr machen darf. Trotzdem gibt es Spekulationen. Ein Institut hat gestern zum Beispiel noch gesagt, dass der Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan auf 47 Prozent komme, sein hoffnungsvollster Herausforderer Muharram Ince auf 33 Prozent und dass Ince dann in der zweiten Runde am 08. Juli gewinnen wird. Aber: Dieses Institut soll auch der CHP, also der Partei von Ince, näher stehen.
DOMRADIO.DE: Wie ist die Stimmung?
Sendker: Schon eher angespannt, würde ich sagen. Aber auf Seiten der Opposition auch so hoffnungsvoll wie vielleicht nie zuvor! Die Chance für den Wechsel war nie so groß wie jetzt, sagen viele. Es sieht trotzdem sehr knapp aus - auf der einen Seite steht ja Erdogan und auf der anderen Seite 5 Kandidaten - von denen hat aber realistisch nur der Mann der sozialdemokratischen-kemalistischen Partei CHP eine Chance, Muharram Ince. Beide sind heute noch mal zu einigen Kundgebungen in Istanbul. Richtig doll Stimmung gab es am Donnerstag zum Beispiel in Izmir, eine eher liberale Stadt und CHP-Hochburg: Da sollen 2,5 Millionen Menschen - also mehr als überhaupt in Köln leben - zusammengekommen sein, weil Ince da war. Viele hoffen eben auf einen politischen Wechsel, aber die Lage ist ganz schön diffus, was zum einen daran liegt, dass die meisten Medien mittlerweile von der aktuellen Regierungspartei AKP gesteuert werden über die in den letzten Tagen auch einige Fake News verbreitet wurden. Gegen die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu hat die CHP Medienberichten zufolge gestern sogar Strafanzeige gestellt, weil sie zu einseitig berichten würde. Zum anderen liegt die schwierige Situation am neuen Wahlgesetz, wonach zum Beispiel Wahlurnen aus Bezirken verschoben werden dürfen - aus "Sicherheitsgründen". Das passiert dann vor allem in den Gebieten, in denen die pro-kurdische Partei HDP stark ist. Und: Es dürfen dieses Mal auch Stimmzettel gewertet werden, die nicht den offiziellen Stempel des Hohen Wahlrats haben. Das sehen Wahlbeobachter kritisch, weil es da schnell zu Wahlfälschungen kommen kann.
DOMRADIO.DE: Wie nehmen die Christen im Land die Wahl wahr?
Sendker: Die Wahl ist schon Thema hier. Da kommt es darauf an, von welchen Christen man spricht: Ich habe mit den deutschsprachigen Christen gesprochen, da sind natürlich einige nur kurzfristig da, für die ist die Wahl nicht so wichtig. Bei denen, die länger hier sind, merkt man schon, dass sie ein bisschen nervös und aufgeregt sind, die haben aber keine Angst. Wobei auch differenziert werden muss: Sprechen wir von den Christen in zum Beispiel Anatolien oder von denen in Istanbul und meinen wir dann die Katholiken, Protestanten, die syrisch-orthodoxen, griechisch-orthodoxen, bulgarisch-orthodoxe und so weiter. Zwar spielen Ökumene und interkonfessioneller Dialog eine viel praktischere Rolle hier als etwa bei uns in Deutschland, aber es kommt auch immer drauf an, von wem man redet.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt überhaupt Religion für die Wahlen?
Sendker: Die Türkei ist gemäß der Verfassung ein laizistischer Staat: Religion und Staat sind hier also strikt getrennt. So jedenfalls die Theorie, wenn man dann durch die Straßen geht und zum Beispiel ein Wahlplakat mit Erdogan an einer Moschee prangen sieht, dann ist es mit dem Laizismus auch irgendwie vorbei. Also Religion spielt schon eine Rolle, es läuft viel über Religion, gerade die AKP macht viel über den Islam, ist aber auch sehr nett zu den Christen. Viele Christen stehen der AKP sehr offen gegenüber, gerade die Griechisch-Orthodoxen haben ein gutes Verhältnis zu Erdogan und der AKP, weil es viele Beziehungen gibt und man sich gegenseitig unterstützt.