Die Nacht war bereits hereingebrochen, als die Islamisten über das Dorf herfielen und Dutzende Häuser anzündeten. Die Polizei war gewarnt, kam aber nicht. So konnten Terroristen von Boko Haram ungehindert 276 Mädchen aus einem Internat in Chibok im Nordosten Nigerias verschleppen.
Am 14. April ist es genau ein Jahr her, dass die Schülerinnen auf der Ladefläche eines Lastwagens und in einem Bus verschwanden. 53 der Mädchen konnten seitdem entkommen, von den anderen fehlt bis heute jede Spur. Sie verliert sich im Sambisa-Wald, einer entlegenen, unkontrollierten Wildnis an der Grenze zu Kamerun.
Abends beim Wasserholen entkommen
"Als wir zum Sambisa-Wald kamen, haben sie uns in drei Gruppen aufgeteilt", berichtet eines der entkommenen Mädchen. "Wir mussten in unterschiedliche Himmelsrichtungen marschieren, bevor wir unter Bäumen kampierten." Die Schülerin, die ihren Namen nicht nennen will, konnte abends beim Wasserholen entkommen.
Ihre Entführer beschreibt sie so: "Die einen haben uns beleidigt und angeschrien, andere haben uns aber in Schutz genommen - alle waren bewaffnet, und manche, nicht alle, waren maskiert; getan haben sie mir aber nichts." Andere Schülerinnen hatten weniger Glück.
Polizei bleibt untätig
Der nigerianische Geistliche Oladimeji Thompson, der mit einigen der Entführungsopfer gesprochen hat, weiß von mindestens einem Mädchen, das brutal missbraucht wurde. "Diese Schülerin ist an einem Tag 15 Mal von 15 verschiedenen Männern vergewaltigt worden." Andere würden zwangsverheiratet.
In den Monaten nach der Entführung werden immer mehr Details bekannt. Viele Menschen sprechen mit den entkommenen Schülerinnen, nur anscheinend die Polizei nicht. Mehrere Mädchen wundern sich offen, dass sie niemals nach dem Ort ihres Verstecks befragt wurden.
Dabei können zumindest einige genau beschreiben, von wo sie geflohen sind, zeigen Interviews in nigerianischen Medien. Stattdessen stochern Polizei und Armee im Dunkeln. "Wir befragen alle Zivilisten in Gebieten, die wir von Boko Haram befreit haben, aber niemand hat bislang sachdienliche Hinweise gegeben", räumte Nigerias Stabschef Kenneth Minima im März im Interview mit dem US-Auslandssender Voice of America ein.
Militärsprecher Chris Olukolade gab sich kurz danach noch unverbindlicher. "Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir wissen, wo sich die Mädchen aus Chibok befinden." Auch der scheidende Präsident Goodluck Jonathan zeigte sich immer wieder ahnungslos.
Aktivisten kämpfen weiter
Diese Unfähigkeit des Staatsapparats, mehr als 220 Kinder und Jugendliche zu finden, kostete Jonathan vermutlich die Wiederwahl. Die Mädchen von Chibok, deren Schicksal für kurze Zeit die Welt bewegte, wurden zum Symbol für seine Machtlosigkeit.
Als US-First-Lady Michelle Obama mit einem Schild posierte, auf dem "#BringBackOurGirls" stand - der Hashtag, unter dem die Entführung auf dem Kurznachrichtendienst Twitter bekannt wurde - hatte Nigerias Polizei noch nicht einmal ernsthaft mit der Suche begonnen.
Trotzdem müsse weiter auf das Schicksal der Mädchen aufmerksam gemacht werden, fordert Rotimi Olawale, Sprecher von #BringBackOurGirls. De
rzeit findet eine Aktionswoche mit Vorträgen und Protestmärschen in Nigeria statt. Auch in den USA sind Aktionen geplant. "So lange wir nicht sicher sind, dass die Mädchen umgebracht wurden, läuft unsere Kampagne weiter", erklärt Olawale. "Damit stellen wir sicher, dass sich die Regierung weiterhin um die Befreiung der Schülerinnen kümmern muss."
Bis heute nutzt Boko Haram die Verschleppung der Mädchen als Propaganda. Anführer Abubakar Shekau will die Mädchen konvertiert, verheiratet und auf dem Markt verkauft haben. Trotzdem bot er sie dem Staat mehrfach als Unterpfand an gegen Inhaftierte, unter denen sich auch Familienangehörige Shekaus befinden.
Vieles spricht dafür, dass die Mädchen entführt wurden, weil die Dorfbewohner kein Schutzgeld an Boko Haram zahlen wollten. In vergleichbaren Fällen kamen Geiseln frei, wenn das nachgeholt wurde. Doch nicht zuletzt durch die internationale Aufmerksamkeit ist der Marktwert der Geiseln inzwischen so hoch, dass das als ausgeschlossen gilt.
Die Hoffnung schwindet
Womöglich ist die Wahrheit für die bangenden Eltern sogar noch schrecklicher. UN-Menschenrechtskommissar Seid Ra ad al-Hussein wird in nigerianischen Zeitungen mit der Aussage zitiert, die Mädchen könnten von den Terroristen getötet worden sein, bevor die Kämpfer die Flucht vor dem tschadischen Militär antraten.
In Städten wie Bama im nordöstlichen Bundesstaat Borno seien Massengräber entdeckt worden, und es gebe Hinweise, dass die Mädchen zuletzt dort gewesen seien. Offiziell bestätigt ist nichts. Doch die Hoffnung, die Mädchen von Chibok ein Jahr nach ihrer Entführung noch zu finden, scheint gering.
Oliver Dashe Doeme, katholischer Bischof der Diözese Maiduguri, bleibt dennoch verhalten optimistisch: "Wir beten jeden Tag für alle Opfer", sagt er. Auch er teilt die Meinung, dass Boko Haram mittlerweile auf dem Rückzug sei. "Wir hören jetzt sehr oft, dass die meisten besetzten Gebiete zurückerobert sind." Ob das eine gute oder eine schlechte Nachricht für die Mädchen ist, muss sich noch zeigen.
Der designierte Präsident Nigerias Muhammadu Buhari will nach eigenen Worten alles in seiner Macht stehende tun, um die Schülerinnen aus Chibok zu befreien. Er könne dies aber nicht versprechen, weil der Aufenhaltsort weiter unbekannt sei, schränkte der frühere Militärdiktator in einer Mitteilung vom Montagabend ein.
Buhari kündigte an, die Boko Haram werde ab dem Tag seiner Amtsübernahme die volle Härte des Staates zu spüren bekommen, "um dem Terrorismus ein Ende zu bereiten und Frieden zurückzubringen".