DOMRADIO.DE: Das Schweizer Pharmaunternehmen Novartis startete die Verlosung einer Behandlung mit Zolgensma für 100 Kinder an diesem Montag. Es handelt sich um das teuerste Medikament der Welt, mit rund zwei Millionen Euro für eine Dosis. Die Therapie ist für Kinder unter zwei Jahren, die an spinaler Muskelatrophie (SMA) leiden, die Muskelschwund verursacht und in schweren Fällen unbehandelt zum Tod führen kann. Zweimal pro Monat sollen per anonymisierten Zufallsverfahren Patienten ausgewählt werden, die eine Gratisdosis des Mittels erhalten. Glücklose Bewerber wandern stets automatisch in die nächste Runde. Ist diese Aktion für ein Unternehmen moralisch vertretbar?
Prof. Dr. Jochen Sautermeister (Medizinethiker an der katholisch-theologischen Fakultät der Uni Bonn): Grundsätzlich ist erst einmal die Entwicklung neuer Medikamente zur Behandlung schwerer oder lebensbedrohlicher Erkrankungen zu begrüßen. Auch moralisch. Gleichwohl sind die Bedingungen, um die es hier geht, durchaus ethisch fragwürdig und zu diskutieren.
DOMRADIO.DE: Es gibt noch ein alternatives Medikament gegen SMA, das Spinraza heißt. Es muss aber im Gegensatz zu Zolgensma regelmäßig verabreicht werden. Zu Beginn der Therapie häufiger, später alle vier Monate. Eine einzelne Spinraza-Behandlung kostet rund 100.000 Euro. Falls Zolgensma also tatsächlich wirkt, könnte die einmalige Zwei-Millionen-Euro-Injektion auf Dauer sogar günstiger sein. Noch ist das aber nicht belegt, da Vergleichsstudien der beiden Medikamente fehlen. Zolgensma hingegen ist in der EU noch gar nicht zugelassen. Es wird eigentlich noch von der Europäischen Arzneimittelagentur geprüft. Die Behörde hat noch eine Reihe an Fragen an die Novartis-Tochter Avexis, die das Medikament entwickelt hat. Es geht um Datenmanipulation in Tierversuchen, die nach der Zulassung in den USA bekannt geworden sind. In Deutschland hat das zuständige Bundesinstitut nun die Teilnahme von Bundesbürgern an der Losvergabe erlaubt. Warum jetzt diese Ausnahmeregelung?
Sautermeister: Das Arzneimittelgesetz erlaubt in Einzelfällen, dass nicht zugelassene Medikamente in Verkehr gebracht werden dürfen. Die Ausnahmeregelung kann dann gegeben werden, wenn es um Medikamente geht, die einen hohen therapeutischen Nutzen haben, noch nicht zugelassen sind und für den Einzelfall zugelassen werden können. Das passiert also im Sinne einer Einzelfall-Überprüfung und keiner generellen.
Warum jetzt diese Ausnahmeregelung? Ich denke, dass ein hoher Druck auf der Prüfung lastet. Deswegen gibt es auch die Vorwürfe, dass es sich vielleicht um eine Medienkampagne handeln kann.
DOMRADIO.DE: In Deutschland ist nach Angaben des Bundesinstituts für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel eines von 10.000 Kindern betroffen. Aber nur hundert bekommen jetzt die Chance auf das Mittel. Weckt die Aktion dann nicht falsche Hoffnungen?
Sautermeister: Einerseits wird da mit den Hoffnungen der Eltern gespielt. Es ist eine große Dilemma-Situation. Warum sollte man nicht daran teilnehmen? Man kann grundsätzlich fragen: Ist es hier nicht auch ein Glücksspiel oder eine Gesundheits-Lotterie? Das wird auch zu Recht bemängelt. Ich glaube, die Frage ist: Was sind eigentlich die Kriterien der Vergabe?
Wenn man sagt, es wird ein Losverfahren sein, dann spielt es damit und sagt: "Das sind faire Bedingungen, so sagt auch das Unternehmen." Aber klare Kriterien würden hier eher weiterhelfen. Man könnte insgesamt fragen: Wieso handelt es sich um ein Verfahren wie dieses? Könnte man nicht auf anderen Wege mehr Medikamente denen, die es benötigen, zur Verfügung stellen?
DOMRADIO.DE: Und wäre nicht das wichtigste Kritierium die Dringlichkeit? Sollten es nicht die Kinder bekommen, die es wirklich am dringendsten brauchen?
Sautermeister: Genau. Das ist die Schwierigkeit in diesem Fall. Bei vielen der Kinder besteht eine sehr hohe Dringlichkeitsstufe, sodass die Vergabe unter knappen Bedingungen geschieht. Ein bisschen ist das mit der Orangspende vergleichbar. Auch hier ist die Dringlichkeit ein ganz zentrales Kriterium. Aber man könnte mit dem Blick auf dieses Medikament noch weitere Fragen stellen, nämlich: Wie sieht es mit der Versorgungslage aus? Wie ist es mit Kliniken, mit Gentherapieerfahrungen? Wie ist es mit Nachsorge und Notfallversorgung? All das sind Aspekte, die man eigentlich mit berücksichtigen muss. Es ist aber nicht ersichtlich, dass das der Fall ist.
DOMRADIO.DE: Sie haben schon gesagt: Das klingt so ein bisschen nach einem Glücksspiel mit der Gesundheit. Wird da das Leben mit dieser Aktion nicht auf eine gewisse Weise käuflich gemacht?
Sautermeister: Der Gesundheitsbereich ist immer mit Kosten verbunden. Grundsätzlich reden wir davon: Leben hat Würde, aber keinen Wert. Das heißt, es darf auch nicht gegen Geld aufgewogen werden oder in irgendeiner Weise käuflich sein. Theologisch reden wir hier eben auch von der Würde des Menschen und seiner Gott-Ebenbürdigkeit. Das Menschenrecht auf angemessene Gesundheitsversorgung darf auch nicht an finanziellen Gründen hängen. Insofern: Käuflich - Nein.
Aber letztlich stellt sich doch die Frage nach den Bedingungen: Wie lässt sich das solidarisch finanzieren, durch die Kassen finanzieren oder in der Staatengemeinschaft? Das sind hier große Fragen.
DOMRADIO.DE: Der Verdacht steht im Raum, dass es um eine PR-Strategie des Unternehmens gehen könnte. Weckt das Ganze nicht auch eine Art "Profitdenken"?
Sautermeister: Ja, unbedingt. Wenn man überlegt, wie der Preis berechnet worden ist: Novartis, beziehungsweise die amerikanische Biotech-Tochterfirma Avexis sagen: Es berechnet sich an dem Preis zu einem Vergleichsmedikament und sei nur halb so teuer. Trotzdem kann man sagen: Wenn es ins reine Profitdenken geht, ist das natürlich sehr problematisch und fragwürdig. Gleichzeitig kann man verstehen, dass solche Unternehmen für die Entwicklung eines Medikaments entsprechende Kosten haben. In dem Fall ist es klar zu beziffern. Vor zwei Jahren hat Novartis das Unternehmen Avexis, das die vielversprechende Gentherapie entwickelt hat, aufgekauft. Entsprechend möchte Novartis für den Aufkauf diesen Preis auch wieder reinbekommen.
Das Interview führte Hilde Regeniter.