Lateinamerika-Experte geht in den Ruhestand

Wanderer zwischen zwei Welten

Nach 27 Jahren geht beim katholischen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat Michael Huhn in den Ruhestand: Ein belesener Experte für die Kirche in Lateinamerika und ein wandelndes Lexikon.

Autor/in:
Ina Rottscheidt
Michael Huhn / © Martin Steffen (Adveniat)
Michael Huhn / © Martin Steffen ( Adveniat )

Am meisten ist ihm Haiti ans Herz gewachsen, jenes bettelarme Land, das seit Jahrzehnten nicht auf die Beine kommt: 27 Jahre lang war Michael Huhn für das katholische Lateinamerikahilfswerk Adveniat tätig, davon fast neun Jahre als Referent für Haiti. Oft war er dort, es waren prägende Besuche für ihn: Er sah die Armut und das Elend und gleichzeitig die Entschlossenheit, mit der die Haitianer auch unter widrigen Umständen weitermachen. "Das hat mich immer sehr demütig gemacht, wenn ich nach Hause kam und dachte, wie klein meine eigenen Sorgen im Vergleich dazu sind", erinnert er sich.

Er habe viele beeindruckende Menschen kennengelernt, die trotz ihrer Lebenssituation solidarisch untereinander blieben. Ordensschwestern, die in den entlegensten Dörfern für die Menschen da waren, Gesundheitsversorgung betrieben, Kranke besuchten oder mit ihnen beteten. Projekte, die Adveniat fördert, indem mit kleinen Beiträgen der Lebensunterhalt der Frauen gesichert wird. "Keine Projekte, die die Welt oder das Land verändern", sagt Huhn, "aber wir ermöglichen langfristige Präsenz, die die Menschen dort so sehr brauchen."

Gebeuteltes Land

Trotzdem auch eine bisweilen frustrierende Arbeit, denn kaum ein Land erleidet so viele Rückschläge wie Haiti: 2010 machte ein verheerendes Erdbeben das Land fast dem Erdboden gleich. Im August 2021 bebte die die Erde dort erneut und forderte tausende Todesopfer. Nur einen Monat zuvor war Präsident Jovenel Moïse ermordet worden, seitdem ist das Land quasi führungslos und versinkt in Chaos und Gewalt.

Da den Mut nicht zu verlieren, sei nicht leicht, sagt der langjährige Referent, zumal er einen regerechten "Brain Drain" beobachtet: Die gut Ausgebildeten und Engagierten verlassen das Land, sobald sie können. Die Ordensschwestern in Haiti hätten ihm geraten, den Langmut und die Barmherzigkeit Gottes nachzuahmen, sagt er: "Es ist wichtig, weiterzumachen und auch die zu unterstützen, die den Mächtigen und Korrupten auf die Füße treten. Denn es ist ein Skandal, wie eine kleine mächtige Clique das Land ausbluten lässt!"

Die Zeit bei Adveniat und vor allem die Arbeit mit den Haitianern haben Huhn geprägt: "Die Menschen, die immer weiter machen, geben mir Mut. Insofern waren die Jahre bei Adveniat auch für mich ein unerwartetes Geschenk, ich hätte nicht gedacht, dass die Begegnungen und das gemeinsame Gebet mit den Menschen meinen Glauben so stärken und verändern würden."

Kind des Ruhgebietes

Geboren wurde Michael Huhn 1956 in Oer-Erkenschwick als Sohn eines Bergmanns, sein Vater kam als Vertriebener aus Ostpreußen ins Ruhrgebiet. Huhn wuchs mit fünf Geschwistern in einer katholischen Familie auf. Mit 16 Jahren ging er mit einem Stipendium auf ein internationales College nach Wales, wo er das erste Mal die Erfahrung machte, als Christ in der Minderheit zu sein. "Es ergaben sich daraus interessante Gespräche mit meinen muslimischen, hinduistischen, jüdischen oder chinesischen Mitschülern. Aber da musste ich Position beziehen und habe dabei gemerkt: Über Gott, die Bibel und das Gebet wusste ich nicht allzu viel."

Huhn entschied sich für ein Studium Theologie, neben den Fächern Geschichte, Philosophie, Germanistik und Judaistik. In Münster und Tübingen machte er das erste Mal Bekanntschaft mit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, die in den 1960er Jahren in dortigen Basisgemeinden entstanden war und sich als "Stimme der Armen" verstand. Er studierte unter anderem bei Walter Kasper, der später die Kardinalswürde erhielt und nach Rom berufen wurde. "Das hat mich damals geprägt", erinnert sich Huhn. Er und seine spätere Frau lasen Gustavo Gutiérrez und reisten gemeinsam durch Lateinamerika, das weckte sein Interesse: "Es gab die große Hoffnung auf eine Erneuerung der Kirche; auf ein anderes Gemeindeleben, eine Kirche des Volkes."

Der Weg zu Adveniat

Doch sein Weg führte ihn zunächst nach Münster, wo er als Historiker an der Universität arbeitete. Zu Adveniat kam er im Oktober 1994 eher zufällig und als Folge eines privaten Schicksalsschlages: Nachdem seine Frau früh an Krebs gestorben war, war Huhn alleinerziehender Vater von vier Kindern. Er wollte zurück ins Ruhrgebiet, wo seine Eltern und Geschwister lebten und ihm halfen, das Leben mit vier Kindern neu zu organisieren. Huhn wurde Länderreferent beim katholischen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat.

Drei Jahre später heiratete er wieder und wurde noch ein weiteres Mal Vater: "Meine jetzige Frau war sehr mutig, einen Witwer mit vier Kindern zu heiraten", erzählt er. Gemeinsam wollen sie jetzt, wenn er mit 65 Jahren in den Ruhestand geht, nach Lateinamerika. Huhn freut sich dann auch auf ein Widersehen mit Projektpartnern aus den vergangenen 27 Jahren, mit denen ihn mittlerweile Freundschaften verbinden.

Mit Geduld und Gottvertrauen

Was er durch die Zeit bei Adveniat und die Begegnungen mit den Projektpartnern in Lateinamerika gelernt hat? "Die Tugend der Geduld", sagt er und lacht. "Wir führen hier in Deutschland ein ganz anderes, durchgetaktetes Leben. Es ist schön zu sehen, dass es auch anders geht. Und ich habe mich von der Lebensfreude und der Freundlichkeit der Lateinamerikaner anstecken lassen!" Auch das Gottvertrauen der Latinos habe ihn beeindruckt, der Hinweis auf die "divina providencia", die göttliche Vorsehung, die es schon richten wird, sei allgegenwärtig. Selbst in Kostenvoranschlägen, mit denen Projektpartner Adveniat um Geld baten, musste er bisweilen lesen: "Eigenleistung: 25 Prozent, Adveniat: 50 Prozent. Der Rest: ‚divina providencia‘". Darüber muss Huhn bis heute lachen: Keine besonders deutsche Planung, aber sie funktionierte häufig, irgendwie. "Und ich habe von den Latinos gelernt, Gott in meinem Alltag wirken zu lassen", sagt er.

Wenn Michael Huhn jetzt in den Ruhestand geht, freut er sich darauf, Zeit mit seinen Enkeln zu verbringen. Er wird weiterhin in seiner Gemeinde mitarbeiten und mehr Zeit fürs Fahrradfahren und Lesen haben. Mit ihm geht bei Adveniat ein geschätzter Kollege. Für DOMRADIO.DE war er ein gefragter Interviewpartner und belesener Experte, der immer aus dem Stand alle Fakten, Namen und Jahreszahlen parat hatte. Huhn selbst geht mit einem lachenden und einem weinenden Auge: Vor allem die Kolleginnen und Kollegen in der Essener Zentrale werden ihm fehlen, sagt er: "Ich habe bei Adveniat ein so feines Team vorgefunden, so etwas findet man selten." Und er ist fest entschlossen, den Kontakt zu halten.


Quelle:
DR