Unser Verhältnis von Nähe und Ferne hat sich unter der Pandemie mit der reduzierten Bewegungsfreiheit neu justiert. Schon ein Spaziergang mit dem Hund eröffnete der Psyche zuletzt ungeahnte Weiten, selbst tägliche Besorgungen hatten etwas Abenteuerliches. Nachbarstädte rückten dagegen in unerreichbare Ferne, erst recht Metropolen wie London, Paris oder New York. Ihre Namen begannen wieder zu klingen, vor unseren Augen erschienen sie plötzlich als idyllisierte Ansichtskarten.
Eine neue Perspektive
Wir blendeten aus, dass dort genau die gleichen Shutdown-Verhältnisse herrschten wie zu Hause. Jede unspektakuläre Reiseerinnerung überzog ein goldener Glanz; selbst die Kakerlaken in der Ferienwohnung oder das schlechte Hotelessen erschien einem rückwirkend als tolerables Übel. Und die Reiseandenken, die sonst vor sich hin stauben, erfuhren eine auratische Aufladung.
Grenzen - in Europa wussten wir schon gar nicht mehr, was das war - erfüllten plötzlich wieder ihre Funktion. Auch die Reisedokumente, zu denen inzwischen als wichtigstes der Impfausweis zählt, wurden auf ungeheure Weise aufgewertet. Langsam öffnen sich die Nachbarländer nun wieder für Urlaubsreisende. Und wer nicht gerade zu den Hasardeuren zählt, wird sich wohl kaum einen Langstreckenflug in Breiten buchen, wo die Menschen noch nicht aus dem Schlimmsten heraus sind oder gegen eine neue Virusvariante kämpfen.
Die Sommerfrische
Und so erlebt die Idee der guten alten Sommerfrische ein ungeahntes Revival. Es gab sie schon in der Antike, und im europäischen Adel und später im Bürgertum des 19. Jahrhundert wurde sie zum Statussymbol. Zudem barg die stickige Luft der Städte aufgrund der schlechten Hygienebedingungen Gesundheitsrisiken.
Während sich die Aristokraten über die Sommermonate mit ausgedehnten Bildungsreisen durch ganz Europa vergnügten, konnten die Wirtschaftsunternehmer und Bankiers nicht länger ihr Kontor verlassen. Sie schickten dann eben die Gattin samt Kindern zur Erholung in die Bäder an der Nord- und Ostsee oder in die Alpen, wo das Klima kühler und gesünder ist.
Mit der Durchsetzung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Aufbruch in die Sommerfrische schließlich zum Massenphänomen, der Radius erweiterte sich zusehes. Mit der Mobilisierung der arbeitenden Bevölkerung etablierte sich Mitte des vergangenen Jahrhunderts der Italienurlaub mit dem eigenen Auto. Spanien, Portugal, Griechenland, die Türkei und Frankreich kamen hinzu.
Reiseverkehr und Corona
Das Aufkommen der Billigflüge revolutionierte den Reiseverkehr. Schnell mal zum Junggesellenabschied nach Riga oder zum Shopping-Trip nach New York: Fluglinien hatten sogar Blindbuchungen im Angebot, bei denen die Passagiere erst kurz vor Reiseantritt den Zielort erfuhren. Zeit und Raum schienen kein Hindernis mehr darzustellen.
Bis Corona seine weltweite tödliche Reise antrat. Das Virus lehrt uns Demut und Bescheidenheit und könnte unserer Hybris, dass uns die Erde als Urlaubsgebiet untertan zu sein hat, einen Dämpfer versetzen. Auch Klimawandel und Flugscham lassen so manchen bei der Urlaubsbuchung in fremde Gefilde zögern. So erhält das alte Sprichwort "Warum in die Ferne schweifen, sieh das Gute liegt so nah" eine aktuelle Bedeutung.
Erholung in Pandemie-Zeiten
Das Urlauben an Nord- und Ostsee und in den bayerischen Alpen erlebt einen Boom. Fast, so scheint es, wird ein Urlaubsgefühl von anno dazumal wiederentdeckt: entschleunigtes In-den-Tag-Hineinleben mit einfachen Freuden am Badesee oder Mußestunden mit Picknick am Wegesrand. "Sommerfrische" - ein Begriff, der leider aus der Zeit gefallen scheint und den der Duden längst mit dem Stempel "veraltet" versehen hat.
Der Mensch braucht Erholung, gerade auch nach dem harten Corona-Winter. Aber dass die Orte mehr sind als die Kulisse, vor der man sich mit seiner Kamera ablichten lässt, das hatten wir vergessen. Wir machen wieder Urlaub, aber womöglich anders, entschleunigter, bescheidener. So veraltet "Sommerfrische" auch klingt - die Idee dahinter ist nicht überholt.