DOMRADIO.DE: Die französischen Könige wurden in Reims gekrönt und in Saint-Denis begraben. Wie wurde die Kathedrale Notre-Dame in Paris später dann doch zum Nationalsymbol?
Tom Heneghan (freier Journalist in Paris mit dem Schwerpunkt Religion): Sie wurde eigentlich vorher zum Nationalsymbol, weil die Pilgerfahrten im Mittelalter sehr wichtig waren. Diese richteten sich nach Paris, nicht nach den anderen Orten.
Die Könige von damals wurden in Reims gekrönt, weil die Taufe des ersten christlichen Königs von Frankreich, Chlodwig I., dort stattfand. Die Könige wurden in Saint-Denis nördlich von Paris begraben, weil sie nahe am Schutzpatron von Paris, dem heiligen Dionysius, bestattet sein wollten. Das hat alles nicht die Wichtigkeit der Kathedrale von Paris beeinträchtigt.
Das sieht man auch heute. Papst Franziskus will in der Basilika Santa Maria Maggiore begraben werden. Beeinträchtigt das den Glanz des Petersdoms? Nein, nicht wirklich.
DOMRADIO.DE: In der Französischen Revolution wurde die Kathedrale zum Tempel der Vernunft. Erst mit Napoleon von politischer Seite, aber auch mit dem Roman "Notre Dame de Paris" von Victor Hugo erwachte Notre-Dame von Neuem. Welchen Stellenwert hat die Kathedrale im Bewusstsein der Franzosen heute?
Heneghan: Heute ist es ausgeglichener. Zur Zeit der Revolution haben viele Emotionen geherrscht und es gab eine antikirchliche Stimmung. Napoleon hat das wieder ausgeglichen. Dann kam um die Wende zum 20. Jahrhundert eine antichristliche, antikirchliche Bewegung auf. Aber danach war es wieder mehr oder weniger ausgewogen.
Im Moment ist es so, dass die Gesellschaft natürlich sehr säkular ist. Überall herrscht Laizität, aber die Kathedrale ist zum Nationaldenkmal geworden. Sie ist das meistbesuchte Touristenziel im meistbesuchten Land der Welt.
Jeder – auch ein atheistischer Geschäftsmann – weiß, dass man da investieren muss. Das ist wichtig für die Leute. Deshalb war es klar, dass Präsident Macron nach dem Brand sofort gesagt hat, die Kathedrale werde in fünf Jahren wiederaufgebaut.
DOMRADIO.DE: Das hat dann auch bis auf ein paar Monate geklappt. Warum entwickelte Macron diesen Eifer, dass er den Wiederaufbau der Kathedrale Notre-Dame zur Chefsache machte?
Heneghan: Man muss dazu die Psychologie der Franzosen verstehen. Die Franzosen verkaufen Träume. Die Franzosen haben Pracht sehr gerne. Und sie wollen zeigen, dass Frankreich so etwas machen kann. Das war auch für den Präsidenten sehr wichtig. Als Nationaldenkmal musste er Notre-Dame sofort zur Chefsache machen.
In den letzten Monaten ist klarer geworden, dass es für ihn sehr wichtig war, weil er seine Mehrheit im Parlament bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli verloren hat. Jetzt ist er in die Enge getrieben worden, wo er nur solche prachtvollen Ereignisse veranstalten kann. Er kann zum Beispiel sein Budget nicht durch das Parlament bringen. Er kann politisch nicht mehr wirken.
DOMRADIO.DE: Ist vor diesem Gesichtspunkt sein Besuch auf der Baustelle am vergangenen Freitag als rein politisches Agieren zu werten?
Heneghan: Das war politisch, weil Macron eine Veranstaltung wollte, wo er im Mittelpunkt steht. Der Erzbischof von Paris wird die Kathedrale am 8. Dezember liturgisch wiedereröffnen. Nach der französischen Tradition kann der Präsident zwar gegenwärtig sein, aber nicht aktiv am Gottesdienst teilnehmen. Er darf keine Ansprache halten.
General de Gaulle, der praktizierender Katholik war, hat sich daran gehalten. Macron sollte nur außerhalb der Kathedrale sprechen können. Das hat die Pläne Emmanuel Macrons vereitelt. Der hat deshalb vor dem 8. Dezember seine eigene Wiedereröffnung, den Besuch der Baustelle, inszeniert, wo dann auch die Fernsehkameras live dabei waren.
DOMRADIO.DE: Das heißt vor der eigentlichen Wiedereröffnung am kommenden Wochenende gab es schon eine solche nur durch den Präsidenten?
Heneghan: Macron wird am Samstag dort sprechen, wie es auch dem Wunsch des Erzbischofs entspricht, nur eben am Sonntag nicht. Der Besuch der Baustelle am vergangenen Freitag war nicht geplant, der kam plötzlich als Überraschung.
DOMRADIO.DE: Emmanuel Macron stammt aus einer nichtreligiösen Familie und ließ sich als 12-Jähriger römisch-katholisch taufen. Spielt das in seinem Tun und Handeln als Politiker auch eine Rolle?
Heneghan: Das ist schwer zu sagen. Macron ist spirituell, aber nicht katholisch im engeren Sinne. Er spricht das an, was in der Bevölkerung passiert. Die meisten sind nicht mehr kirchengebunden. Weniger als 5 Prozent gehen regelmäßig in die Kirche, aber spirituelle Werte spielen unter der Hand noch eine Rolle.
Ich würde das daher nicht überbewerten. Das ist nicht der Hauptantrieb bei ihm. Bei ihm steht Pracht im Mittelpunkt. Das ist für ihn viel klarer.
DOMRADIO.DE: Am kommenden Wochenende wird die Kathedrale wiedereröffnet. Eine Zeit lang wurde sogar Papst Franziskus als Gast zu diesem Anlass erwartet. Der Papst hat allerdings abgesagt. Was hätte seine Anwesenheit für Frankreich bedeutet, wenn Franziskus doch gekommen wäre?
Heneghan: Das wäre für Macron politisch von Vorteil gewesen, dass er solche Leute um ein Ereignis versammeln kann, das er veranstaltet.
DOMRADIO.DE: Ähnlich wie bei der Krönung von Napoleon vor 220 Jahren, bei der der Papst anwesend war?
Heneghan: Genauso.
DOMRADIO.DE: Den Gefallen tut ihm der Papst jetzt aber nicht. Stattdessen kommt jemand anderes. Donald Trump, der neue Präsident der USA, hat soeben sein Kommen zur Wiedereröffnung angekündigt. Wie ist diese Nachricht in Frankreich aufgefasst worden und was bedeutet sie?
Heneghan: Die Nachricht ist so frisch, dass man noch nicht gut sagen kann, wie das hier interpretiert wird. Die Tatsache ist, dass Trump genauso politisch denkt wie Macron. Das ist eine große Veranstaltung. Er kann dabei sein und er kann auch vor seiner Amtseinführung die Politik Amerikas vertreten.
Das bringt den jetzigen Präsidenten Joe Biden in Zugzwang. Wird er dann auch kommen? Wird er neben Trump stehen und in der Kathedrale sein? Man weiß es nicht. Aber ich kann mir denken, dass Joe Biden die Vertretung Amerikas nicht diesem nächsten Präsidenten schon übergeben wird, bevor er vereidigt ist.
DOMRADIO.DE: Hat der Besuch Trumps Konsequenzen für die zukünftigen Beziehungen zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten?
Heneghan: Nein. Macron hat am Anfang seiner Amtsperiode versucht, mit Donald Trump ins Reine zu kommen, weil er vorher andere Aussagen gemacht hat. Trump wurde zur Feier des großen Nationaltags am 14. Juli eingeladen und ist gekommen. Er hat sich die Militärparade angeschaut, was er sehr mag, aber das hat Frankreich eigentlich nichts gebracht. Dasselbe wird auch diesmal mit Trump so sein. Er kommt, weil es ihm politisch nützlich ist. Danach macht er, was er will.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.