DOMRADIO.DE: Die Montagsdemonstrationen vor 30 Jahren brachten als friedliche Revolution die Wende. Diese Tage Anfang Oktober im Jahr 1989 müssen unvergesslich sein für die, die damals dabei waren, oder?
Dr. Thomas Arnold (Direktor der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen): So erlebe ich das tatsächlich auch in Dresden. Nun muss ich ehrlich dazusagen: Ich bin 1988 geboren. Ich kann mich an diese Zeit nicht selbst erinnern. Ich bin eine andere Generation. Ich denke, das macht auch deutlich: Wir müssen es schaffen, diese Erinnerung - auch diese Erfahrung von Freiheit - in die nächste Generation und in die nächsten Jahrzehnte zu transferieren. Ich merke, wie bewegt die Leute sind. Wir waren gestern im Kulturpalast, wo teilweise Menschen zu Tränen gerührt waren bei den Erinnerungen an den 8. Oktober. Da standen sich Gewalt, Volkspolizei und Menschen mit Kerzen gegenüber. Und es ist wenigen Menschen zu verdanken - unter anderem zwei katholischen Kaplänen, die das Gespräch gesucht und vermittelt haben - dass das damals nicht in Gewalt umgeschlagen ist. Das hat die Stadt geprägt und das spürt man bis heute.
DOMRADIO.DE: Schauen wir nochmal zurück auf diese Zeit vor 30 Jahren. In der Dresdner Kreuzkirche fand unter anderem die Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der DDR statt, von der wesentliche Impulse für den politischen Umbruch ausgegangen sind. Was weiß man über diese ökumenische Kraft, die gemeinsam an diesem DDR-Regime gerüttelt hat?
Arnold: Ich glaube, sie macht zwei Dinge deutlich: Erstens, die friedliche Revolution kam nicht plötzlich und von heute auf morgen, sondern sie war gedanklich vorbereitet. Zwar nicht strukturiert, dass man gesagt hat: Wir wollen im Jahr 1989 das System umstürzen. Sondern es waren Menschen, die aus ihrem Glauben motiviert waren und gesagt haben: Wir wollen und können so nicht weiterleben. Wir müssen darüber diskutieren und uns miteinander verständigen, was in diesem Land anders werden soll.
Da hat man drei Schwerpunkte gefunden: Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung. Aus diesen drei Bereichen ist ein Papier erwachsen. Wichtig ist auch: Es ist ökumenisch geschehen. Es haben sich Menschen verschiedener Konfessionen miteinander verbunden und gesagt: Wir müssen gemeinsam darüber nachdenken.
Ich glaube, wir müssen uns im 21. Jahrhundert neu darüber verständigen: Was heißt Frieden? Was heißt Bewahrung der Schöpfung? Was heißt Gerechtigkeit für unsere Gesellschaft heute? Deswegen bin ich nicht nur dankbar, dass die, die sich damals schon beteiligt haben, einen Aufruf gestartet haben. Sondern wir wollen das in Dresden mit einer eigenen Debatte nächste Woche unterstützen.
DOMRADIO.DE: Auch als Katholische Akademie beteiligen sie sich an einigen Aktionen und am Erinnern der friedlichen Revolution. Sie waren letzte Woche in Prag. Da ging es sicher auch noch einmal um diesen historischen Genscher-Moment damals in der Botschaft.
Arnold: Tatsächlich stand ich plötzlich auf dem Balkon, wo Genscher vor 30 Jahren diese berühmten Worte gesagt hat. Mir ist in Prag eines deutlich geworden: Es handelt sich um ein europäisches, nicht nur um ein deutsches Ereignis. Und ich glaube, wir müssen unseren europäischen Partnern Ungarn, Österreich, Polen und Tschechien zutiefst dankbar sein, dass diese friedliche Revolution geschehen konnte.
Herr Seiters, der damals als Kanzleramtschef verantwortlich war, hat darüber berichtet, wie sich vorher mit dem russischen Präsidenten Gorbatschow abgestimmt wurde, wie nach Ungarn gefragt wurde: Was müssen wir Euch zahlen, damit ihr uns entgegenkommt? Und der dortige Präsident sagte: Für Menschlichkeit wollen wir kein Geld haben. Das sind ja emotional enorm bewegende Momente, in denen sich gezeigt hat, wie dieses Europa zusammenhalten kann. Ich wünsche mir ein Europa, was heute genauso wieder zusammenhält.
DOMRADIO.DE: Sie werden durch das Bistum reisen und auch Geschichten zu dem Thema sammeln. Wie werden sie das tun? Was haben sich da konkret vorgestellt?
Arnold: Natürlich haben wir an den verschiedenen Orten Debatten, die diesen Herbst aber auch das nächste Jahr prägen werden. Wir hatten ja vor 30 Jahren nicht nur die friedliche Revolution mit dem Mauerfall, sondern wir hatten eine Zeit bis zur Wiedervereinigung, in der darum gerungen wurde: Wie gestalten wir dieses Land? Gestalten wir die DDR? Gestalten wir es miteinander mit der Bundesrepublik? Ich habe jetzt noch während der letzten Veranstaltungen gemerkt: Dort gibt es Verletzungen. Dort gibt es die Frage, warum haben wir nicht gemeinsam nach einer neuen Verfassung gesucht und darum gerungen? Es gab erste Entwürfe. Es gab einen runden Tisch. Was ist aus diesen Ideen geworden? In Helmut Kohls Rede am 19. Dezember vor der Frauenkirche kam dieser Gedanke der Deutschen Einheit enorm heraus, auch in der Bevölkerung.
Ich will ganz deutlich sagen: Ich bin dankbar für diese Einheit! Aber wir merken auch in den Stimmungen in der Gesellschaft im Moment: Wir müssen uns noch einmal neu darüber verständigen: Was ist unsere Identität? Nicht in Abgrenzung zu den alten Bundesländern, sondern als gemeinsame Republik. Ich glaube, auch als Christen können wir dort eine Avantgarde werden.
Wir als Akademie haben überlegt: Wie können wir Geschichte auf den Punkt bringen? Wie können Menschen ihre Geschichten erzählen? Ich freue mich ganz besonders, dass wir im Rahmen der Kulturhauptstadt-Bewerbung am Freitag eine Telefonzelle eröffnen können. Wir haben sie "'89 und ich" genannt. Dort können Menschen in 60 Sekunden ihre Erfahrungen von '89 erzählen, aber auch ihre Erfahrungen, wie sie die letzten 30 Jahre erlebt haben. Denn eines ist klar: Wir müssen uns nicht nur über wirtschaftliche oder soziale Angleichung in diesem Land verständigen. Sondern ich glaube, wir müssen lernen, miteinander und voneinander Geschichten zu hören. Um uns darüber zu verständigen, was uns in Zukunft prägen soll.
DOMRADIO.DE: Was können wir für heute lernen von den Montagsdemos vor 30 Jahren, etwa wenn wir heute das Erstarken von Populisten sehen, gerade auch in Ostdeutschland.
Arnold: Ich denke, wir können als Kirchen lernen, dass wir Räume öffnen können und dass Menschen in unsere Räume kommen, um miteinander zu debattieren. Dafür steht die Katholische Akademie in Sachsen. Und es gibt auch verschiedene andere Anbieter, die versuchen, diese Räume zu ermöglichen. Das Zweite ist: Wir können als Christen mit unserer Botschaft den Mut haben und rausgehen. Ich denke gern an Frank Richter (Anm. d. Red.: Richter war 1989 Kaplan in Dresden und gründete am 8. Oktober 1989 spontan die "Gruppe der 20" mit, die durch Vermittlung mit den Behörden maßgeblich für einen friedlichen Verlauf der Proteste sorgte), der erzählt, wie ihn auch sein Glaube in dieser sehr aufgeladenen Zeit vor 30 Jahren geprägt hat. Dieser Glaube kann Mut machen, hinauszugehen und diese Gesellschaft zu gestalten. Und selbst mit wenigen Christen - mit drei Prozent hier in Sachsen - die ihre Stimme erheben und Position beziehen, glaube ich, kann diese Gesellschaft gestaltet werden.
Das sind vielleicht zwei Elemente, die man aus der damaligen Zeit mitnehmen kann. Aber wir dürfen auch nicht überheblich werden: Nicht Christen allein haben diese friedliche Revolution gemacht. Nicht wir allein können Gesellschaft verändern. Sondern es braucht immer jene "Menschen guten Willens", die bereit sind, diese Gesellschaft mit zu prägen und sich mitziehen zu lassen, vielleicht auch vom Heiligen Geist mitziehen zu lassen.
Das Interview führte Carsten Döpp.