Wer gibt Orientierung in kirchenfernen Zeiten?

"Wir rennen immer schneller, anstatt inne zu halten"

"Die Stimmung im Haus Deutschland ist so mies, wie ich es noch nicht erlebt habe", schreibt die Gesellschaftswissenschaftlerin Maja Göpel. In ihrem neuen Buch fragt sie nach neuen Werten und erklärt, was ohne Kirchenbindung fehlt.

Autor/in:
Johannes Schröer
Maja Göpel / © Johannes Schröer (DR)
Maja Göpel / © Johannes Schröer ( DR )

DOMRADIO.DE: Ihr Buch hält den Glauben an eine gute Zukunft der Menschheit aufrecht. Wie können Sie bei all den Krisen, Kriegen, dem Klimawandel und dem Zuspruch für populistische Parteien Zuversicht bewahren? 

Maja Göpel (Professorin für Politökonomie und Gesellschaftswissenschaften, Autorin des Buches: “Werte. Ein Kompass für die Zukunft"): Die Frage ist ja nicht, ob ich glaube, dass das alles genauso wird, wie ich es als eine mögliche Zukunftsbeschreibung in den Raum stelle, sondern dass es als Sozialwissenschaftlerin mein Job ist zu beschreiben, wie mögliche Pfade der Entwicklung aussehen können und ob das, was wir für wünschenswert halten, dann auch realistisch umzusetzen ist. Das hängt natürlich von unseren Entscheidungen ab. Wenn niemand sich mehr die wünschenswerten Pfade vornimmt und die beschreibt, dann ist auch nicht klar, wie wir überhaupt in eine wünschenswerte Zukunft eintreten wollen und wie wir andere davon überzeugen sollten und könnten, dass es da noch eine Alternative gibt. 

DOMRADIO.DE: Der  Konsum bestimmt unser Dasein. Wir sind alle auf Konsum konditioniert. Wir definieren uns darüber, welche Jacke wir tragen, welche Tasche wir kaufen, welche Schuhe wir anziehen. Die Ökonomie beherrscht uns. Ohne die Konditionierung auf diesen Konsum würde die Wirtschaft zusammenbrechen und großes Chaos entstehen, oder? 

Maja Göpel: Es ist wichtig, die beiden Punkte auseinanderzuhalten. Was Sie als zweites genannt haben, ist die strukturelle Thematik. Es wird als negativ angesehen, wenn unsere Kauflaune sinkt und wir nicht noch mehr shoppen. Die wachstumsorientierte Volkswirtschaft gerät dann ins Stottern. Aber warum kritisieren und hinterfragen wir diesen Mechanismus nicht? Warum kann eine Wirtschaft nur dann weiter stabil laufen, wenn wir immer mehr shoppen und besitzen wollen. 

Maja Göpel

"Es wird als negativ angesehen, wenn unsere Kauflaune sinkt und wir nicht noch mehr shoppen." 

Wir müssten doch fragen, wie kommen wir da eigentlich raus, indem wir das Investitionsregime ändern, indem wir die Definition von Geld oder den Return on Invest auf Soziales und Ökologisches ausweiten. Da gibt es unterschiedlichste Ansätze, die überhaupt nicht ernsthaft diskutiert werden, sondern worüber wir diskutieren, ist, dass wir alle noch mehr leisten sollen und noch mehr kaufen müssten, damit wir aus der Krise rauskommen. Da fehlt oft die Überlegung, wie können wir vielleicht diesen strukturellen Treiber gleich mit angehen. Dass wir scheinbar alle immer Konsum wollen, ist natürlich vom Marketing inszeniert und wird durch Influencerinnen und Influencer angefeuert. Aber das ist doch kein Naturgesetz, das ist soziokulturell bedingt. 

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Maja Göpel fragt nach einem Kompass für die Werte der Zukunft

DOMRADIO.DE: In Ihrem Buch zitieren Sie den Mediziner Hans Rosling. Der sagt: "Die Zahlen können niemals die ganze Geschichte darüber erzählen, worum sich das Leben auf der Erde dreht. Die Welt lässt sich nicht ohne Zahlen verstehen. Sie lässt sich aber auch nicht durch Zahlen allein verstehen". Was geht denn über das Verstehen der Welt durch Zahlen hinaus? 

Maja Göpel: Zunächst ist es wichtig, sich die Zahlen genau anzuschauen und dahingehend zu korrigieren, dass sie uns auch wirklich sehen lassen, was ist. Wir rechnen uns Bilanzen und Bilanzierungen schön, um uns einzureden, wie toll unser Wohlstand aussieht und weiter reden wir uns ein, dass er noch lange so bleiben kann, weil wir die ganzen Schäden, sei es durch den Klimawandel, aber auch durch die Überausbeutung der Böden oder Ressourcen, nicht entsprechend in den Bilanzen ausweisen. Würden wir das tun, sieht ein Geschäftsmodell ganz anders aus und sieht auch eine Erfolgsstrategie anders aus. 

Der zweite Punkt ist, dass wir wichtige Dinge, gerade in der Orientierung, aber auch in der Freisetzung von Bereitschaft, sich einzusetzen, haben, die eben nicht quantifizierbar sind und damit nicht in Zahlen zu packen sind, die aber ganz viele Dinge bewegen. Fridays for Future zum Beispiel. Da war die Motivation nicht, Geld zu verdienen, sondern es war ein ehrenamtliches Engagement, sozusagen wir mischen uns jetzt ein, weil uns unsere Zukunft wichtig ist. Und wenn man dann quantifizieren würde, wie sie eventuell dazu beigetragen haben, dass ein Klimaschutzgesetz sich verschärft hat und man dann die Schäden reduzieren würde, wer weiß, vielleicht müsste man sie eigentlich noch entsprechend bezahlen. 

Aber wir kämen gar nicht darauf, das Engagement in dieser Initiative zu vergüten, weil der Impuls ein originär wertegetriebener war.  Und die großen Revolutionen waren meistens keine Revolutionen, die bankable waren, also von Banken und vom Kapital ausgingen, sondern waren welche, die von einer höheren Idee getrieben waren. 

DOMRADIO.DE:  Früher waren die Werte an religiöse Motive gebunden. Das heißt, dem Stern, dem man gefolgt ist, der hatte mit dem Glauben an Gott zu tun. Das ist heute nicht mehr so. Die Religionen verlieren in den westlich geprägten Ländern immer mehr an Bedeutung. Wo sind die Werte denn heute angebunden und was fehlt, wenn die Kirchen fehlen? 

Maja Göpel: Ich glaube, dass wir Rückbindeorte brauchen. Religio kommt ja auch vom Wortstamm von Rückbinden. Und was passiert, wenn die Institutionen, die dafür typischerweise in der Gesellschaft geschaffen worden sind, das nicht mehr erfüllen? Das sind ja nicht nur die Kirchen, sondern beispielsweise auch Sportvereine und andere Institutionen, die immer weniger Zulauf haben. Da gab es eine soziale Rückbindung. Und da sind viele im Moment auf der Suche. 

Maja Göpel

"Die Folge ist, dass gerade bei jungen Menschen, aber auch bei älteren Menschen die Vereinsamung sehr stark zunimmt."

Die Folge ist, dass gerade bei jungen Menschen, aber auch bei älteren Menschen die Vereinsamung sehr stark zunimmt. Bis zu 24 Prozent der Menschen unter 24 fühlen sich regelmäßig einsam. Das ist unfassbar traurig. Das heißt, wir merken, dass diese Verlinkungsgeschichten, die auf dieser oberflächlichen Digitalebene stattfinden, nicht in der Tiefe so wirken können, wie das tatsächlich andere Formen von Erfahrungen, von Werterückbindungen angeboten haben. Und da sind wir gefordert, aktuell zu gucken, wo schaffen wir das denn? Denn erst durch diese kulturelle Rückbindung und Werterückbindung können wir eine Stabilität finden, die aus uns kommt. 

Es ist total spannend, wenn man sich da extrinsische, intrinsische Motivationen anschaut und fragt: Wo bin ich vulnerabler? Wenn ich nur durch von außen an mich herangetragenes Feedback mein Selbstwert generieren kann, bin ich viel vulnerabler dafür und traue mich auch nicht so abzuweichen. Wenn ich aber aus innerer Überzeugung lebe, das Richtige zu tun, bin ich klarer in meinem Kompass und brauche nicht so viel externe Orientierung. 

Wir kommen ja nicht zur Ruhe, wir kommen nicht in die Zufriedenheit und rennen immer schneller, anstatt inne zu halten und mal aufzuhören zu rennen, um dann vielleicht auch zu bemerken, dass die Abwesenheit von ganz viel Stimulus eben nicht todlangweilig ist, sondern tatsächlich auch was Neues öffnen kann. 

DOMRADIO.DE:  Können die Kirchen bei der Wertevermittlung eine Rolle spielen? Schließlich haben die christlichen Kirchen mit den Kernaussagen der Bergpredigt, mit dem Gebot der Nächstenliebe ein Konzept, das dem Kompass, den Sie beschreiben, gar nicht so fern ist.

Maja Göpel: Viele der alten religiösen Schriften ähneln sich ja, was die Gebote zur grundlegenden Lebenspraxis und die Haltung zur Welt betrifft. Und das ist eine eigentlich gute Botschaft, dass wir wissen, wo Menschen im Grunde genommen Zufriedenheit und Ruhe finden können. In der Geschichte wurden diese Orte kultiviert, es wurden ritualisierte Formen entwickelt, die das gemeinsame Erleben dieser Lebenspraxis möglich gemacht haben. Das hatte unheimlich viel Stabilität und hat auch Routinen und Begegnungen normalisiert. 

Maja Göpel

"Das ist eine eigentlich gute Botschaft, dass wir wissen, wo Menschen im Grunde genommen Zufriedenheit und Ruhe finden können."

Und das fehlt heute. Dazu gehören auch diese Lagerfeuer. Also das Zusammenkommen nach einem Gottesdienst, wo man sich vielleicht auch nochmal wieder vergegenwärtigt hat, was zu tun ist, was auch von dieser Ethik unterstützt wird. Ein anderes Beispiel ist das gemeinsame Singen, und da ist es sehr positiv zu beobachten, dass Chöre wieder zunehmen. Dort habe ich natürlich die Möglichkeit, weil wir alle an einem Ort sind, sich dann auch auszutauschen. 

Und das stabilisiert auch die Gemeinschaft vor Ort, weil wir ja meistens zu der nächsten Kirche laufen. Das heißt, die Instanz und die Institution Kirche hat eigentlich sehr gute Angebote gemacht. Und die Frage wäre jetzt, warum ist das so ein Stück weit verloren gegangen? Wie kann die Attraktivität wieder wachsen? Liegt es an Personen? Liegt es an der Art der Rituale? Wo ist es gelungen, dass tatsächlich diese Begegnungsorte wieder so aufgewertet wurden oder signifikanter wurden? Das sind ja genau eigentlich die spannenden Suchprozesse. 

DOMRADIO.DE: Was vermuten Sie, warum sind diese Angebote, die auch für die Wertevermittlung eine wichtige Rolle gespielt haben, verloren gegangen? 

Maja Göpel: Es ist ja für alles schwerer geworden, was mit einem wirklichen Commitment, also mit einem Selbstbekenntnis und mit einer Selbstverpflichtung, zu tun hat. Dieses in einem Verein, sich ehrenamtlich zu engagieren. Dann mache ich lieber mal eine kurze Spende oder unterzeichne eine Petition oder so was. Also der Wille zur Verbindlichkeit und Durchhaltevermögen fehlt. Das hat sicher auch mit den Sozialen Medien zu tun. Die Aufmerksamkeitsspanne schrumpft und das führt dazu, dass besonders junge Menschen sich scheuen, eine Verbindlichkeit einzugehen und auch entgegen von Frustmomenten dranzubleiben - auch wenn es mal nicht so toll ist. Sich verbunden und damit verantwortlich zu fühlen, ist eine Tugend, der dringend mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfahren könnte. Heute musst du auf jeder Party sein, du musst dein Gesicht überall zeigen, aber du kannst doch nicht überall sein, wenn du irgendwo richtig sein möchtest. 

Wir erleben einen Trade-off, also einen wechselseitigen Konflikt zwischen dem geforderten Multitasking, dem alles-in-sich-hineinstopfen, von allem ein bisschen wissen, aber nie in die Tiefe kommen und auf der anderen Seite: die Tiefe, die Resonanz, sich ganz einer Sache widmen, aber damit auch Tiefe erleben. Und mit diesem Trade-off konstruktiv umzugehen und ein Stück weit vielleicht diese Frenetik, diese Hektik wieder zurückzudrücken, würde insgesamt die Gesellschaft nach vorne bringen. 

DOMRADIO.DE: Der Soziologe Hartmut Rosa sagt, Demokratie braucht Religion, weil Religion Resonanzräume schaffen kann, die das rein ökonomische Denken sprengen. Ist da etwas dran? 

Maja Göpel: Ich kann erst dann wirklich in Resonanz gehen, wenn ich eine gewisse Reduktion vorgenommen habe. Also entweder folge ich immer weiteren Stimuli oder ich reduziere das, was ich in mich reinstopfen muss und denke an die begrenzte Zeitlichkeit. Und wenn ich diese Reduktion dann ritualisiert bekomme und sie Teil einer Erzählung wird, die dann auch das Menschsein in der Welt ausmacht, dann sind das nicht nur singuläre Praktiken, sondern dann ist es eine kontinuierliche Reise - für mich und die Spezies der Menschen auf diesem Planeten. 

Das Interview führte Johannes Schröer.

Säkularisierung

In früheren Jahrhunderten war die Weltanschauung der Menschen stark an die Religion und die Kirche gebunden. Deren Gebote und Verbote schrieben vor, wie die Menschen zu leben hatten. Erst als die geistige Bewegung der Aufklärung Ende des 17. Jahrhunderts in Europa entstand, setzte eine "Verweltlichung", eine Abwendung von Religion und Kirche ein. Das aus dem Lateinischen kommende Wort "Säkularisierung" beschreibt diesen Prozess.

Atheismus / © Wolphgang (shutterstock)
Quelle:
DR

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