Vor fünf Jahren, beim 25. Jubiläum des Mauerfalls, herrschte in Berlin eine große Feierlaune. Viele werden sich noch erinnern an die eindrucksvolle Lichtinstallation mit weißen Ballons entlang des Mauerverlaufs durch die Innenstadt.
Tausende Berlinerinnen und Berliner sowie Touristen aus aller Welt waren auf den Straßen unterwegs. Man traf sich, redete miteinander, schwelgte in Erinnerungen. Wieder und wieder wurden die Erlebnisse von 1989 erzählt, wurde von "Wahnsinn" und "Wunder" gesprochen – in freundlicher und entspannter Stimmung.
Schattenseiten und dunklen Flecken
Zum 30.Jahrestag des Mauerfalls haben wir, so ist mein Eindruck, eine kritischere Sicht auf die zurückliegenden Ereignisse der jüngsten Geschichte. Es wird wieder mehr über die Schattenseiten und dunklen Flecken im Prozess der deutschen Wiedervereinigung gesprochen. Da geht es um zu wenig Wertschätzung von ostdeutschen Biographien, um Benachteiligung in den Chefetagen, um finanzielle Sorgen, um die wachsende Radikalisierung der Gesellschaft, oder um den erstarkenden Rechtspopulismus.
Kein Grund mehr zur Freude?
Haben wir wirklich keinen Grund mehr, über den Fall der Mauer zu jubeln? Sind die Wahnsinnsrufe und das Empfinden für das "Glück des Augenblicks" von damals völlig verklungen?
Vor 30 Jahren hat die Welt auf uns geschaut, voller Staunen und Anerkennung, dass eine Revolution ohne Waffengebrauch und Blutvergießen möglich war. Das ist unsere Botschaft auch heute: eine Welt ohne Mauern ist nicht nur möglich, es ist eine menschlichere Welt! Und es geht mir nicht nur um Mauern aus Stein und Stacheldraht, sondern auch um so manche Mauer in den Köpfen.
Auch wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt durch neue Probleme und Herausforderungen immer wieder in Frage gestellt ist: Wir sollten uns an einem Tag wie heute wieder mehr über die Sternstunde der jüngsten deutschen Geschichte freuen und diese Freude auch zeigen.
Erzbischof Heiner Koch