DOMRADIO.DE: Wie empfinden Sie persönlich die aktuelle Situation der Amtskirche?
Lutz von Rosenberg Lipinsky (Evangelischer Theologe und Kabarettist): Überwiegend bedrückend. Und das war auch so ein Gedanke bei dem Buch "Petri heil - Christsein ohne Kirche", um das es geht. Dass wir gerade während des ersten Lockdowns im letzten Jahr erleben mussten, wie sich Kirche unter Druck doch vielfach verflüchtigt und eben gar nicht mehr für Gläubige, gerade fortgeschrittenen Alters, da ist.
Das ist eine Frage, mit der wir uns jetzt mal langsam, auch angstfrei, beschäftigen müssen. Was ist denn in ein paar Jahrzehnten, wenn Kirche dann tatsächlich nicht mehr existieren sollte? Ist das nicht vielleicht auch an der einen oder anderen Stelle sogar eine Erleichterung?
DOMRADIO.DE: Viele reden über einen Neuanfang. Sie fragen stattdessen in Ihrem Buch: Brauchen wir wirklich die Institution Kirche zum Glauben? Wie ernst meinen Sie diese Frage?
von Rosenberg Lipinsky: Erst mal geht es natürlich um die Rhetorik. Das heißt, für viele ist ein Rückgang der christlichen, der kirchlichen Mitgliederzahlen alarmierend. Und Sie können sich tatsächlich Kirche nur als einziges mögliches Auffangbecken vorstellen.
Da geht es mir erst mal um das Gedankenspiel, dass man tatsächlich angstfrei in die Zukunft gehen kann und sich auch einfach mal versucht eine Zukunft ohne eine Institution Kirche, ohne Kirchensteuer, ohne geregelte Abläufe vorzustellen. Also vielleicht einfach eine Form von neuer Sammlung oder auch meinetwegen neuer Organisation, aber ohne diese jahrhundertealten Strukturen. Das kann dann tatsächlich sogar auch mal ein befreiender Gedanke sein.
DOMRADIO.DE: Wer Sie kennt, weiß, Sie sind Theologe, Sie sind Kabarettist und bringen in Ihrem Buch die Kritik an der aktuellen Situation auch überspitzt rüber. Worauf genau wollen Sie raus?
von Rosenberg Lipinsky: Humor hat ja auch immer viel mit Ventilierung zu tun. Dass man genau das, wovor man Angst hat, einfach auslacht. Das ist letzten Endes das Osterlachen. Das bringt es auf den Punkt. Und genau darum geht es mir, zu sagen, natürlich ist das auch manchmal satirisch und spaßig und übertrieben und manchmal auch polemisch, was ich im Buch schreibe.
Aber es geht genau darum zu sagen, dass wir die Angst davor verlieren müssen, dass es vielleicht sogar in wenigen Jahrzehnten zu einem Zusammenbruch der Kirche kommen könnte oder dass wir da tatsächlich eine Neugestaltung vornehmen müssen. Aber die bitte doch mit Perspektive und nicht einfach nur aus Angst heraus. Ich finde, an dieser Stelle darf man ausdrücklich und soll man auch lachen.
DOMRADIO.DE: Ich nehme Ihr Gedankenspiel mal auf: Was wäre denn dann, wenn es die Amtskirche so nicht mehr gäbe?
von Rosenberg Lipinsky: Nach meiner These würde das ganz praktisch bedeuten, dass die organisierte Nächstenliebe - wie ich das immer nenne - sprich Caritas, Diakonische Werk, dann natürlich alles in gesamtgesellschaftlicher Hand und nicht mehr nur in kirchlich-christlicher Hand wäre. Das wird eine sehr anspruchsvolle und sehr schwierige Aufgabe, wenn das denn überhaupt gelingt.
Ansonsten glaube ich, dass da tatsächlich eine neue Bewegung entstünde und dass es neue Möglichkeiten gäbe. Arbeitshypothese wäre, die Christen wären wieder eine Bewegung wie in den ersten Jahrhunderten und müssten sich dann mal wieder auch aus ihren Mauern raus bewegen und auf andere Menschen zugehen. Das ist nicht die schlimmste Perspektive.
DOMRADIO.DE: Was genau brauchen wir Christinnen und Christen denn in diesen unsicheren Zeiten - auch mit Blick auf Pandemie und Kirchenkrise?
von Rosenberg Lipinsky: Ich glaube, wir brauchen gar nichts, sondern wir können was geben. Es geht ja auch um Zuwendung, um Trost. Wir alle brauchen Zuspruch und Trost, gerade die, die eben nicht kirchlich aufgefangen sind. Genau das, was eigentlich den Kern unseres Glaubens auch ausmacht. Die Frage ist, wie bringen wir das an die Menschen ran? Und geschieht es eben auf institutionellem Wege, geschieht es nur durch die alten, eingefahrenen Treppen oder geht es auch anders? Geht es auch persönlich auf direktem Wege und nicht mehr strukturiert oder strukturell?
Ich glaube, das ist eine Chance, die wir ergreifen könnten. Die Belastung ist für alle seit anderthalb Jahren doch sehr hoch. Ich sehe darin eine Chance, wenn man nicht die Türen zuschließt, sondern sagt, wir wissen, es gibt genügend Menschen, die jetzt wirklich unsere Aufmerksamkeit brauchen und diese Aufmerksamkeit jenen Menschen dann auch zu geben.
DOMRADIO.DE: Wenn wir bei diesem Gedankenspiel bleiben, Sie denken sich die Amtskirche weg, was würden Sie denn unbedingt in die Zukunft "rüber retten" wollen?
von Rosenberg Lipinsky: Als allererstes natürlich die Orgel. Ich fände es großartig, wenn man die Kirchen endlich mal vernünftig beheizen könnte. Wenn die Orgeln nicht darunter leiden, das müsste man natürlich mal genauer rauskriegen. Aber das Instrument als sakralen Effekt in diesem riesigen Gebäude und dem wunderbaren Hall und der Akustik. Das ist alles unfassbar. Das ist natürlich definitiv das erste, was ich sagen würde. Das müssen wir auf jeden Fall transportieren.
DOMRADIO.DE: Gibt es neben der Musik noch andere Dinge, die transportieren werden müssen? Sie hatten eben die Nächstenliebe angesprochen.
von Rosenberg Lipinsky: Nächstenliebe wäre etwas, was auch ohne Kirche denkbar ist, was sich dann aber auf anderem Wege ereignen muss und sollte. Was wir, finde ich, während der Pandemie gerade in den ersten Monaten erleben mussten, dass das auf kirchlichem Wege vermittelt, nicht so richtig funktioniert hat, weil es einfach nicht möglich war. So habe ich es leider zumindest erleben müssen.
Das Interview führte Dagmar Peters.