Wie sich die Bilder gleichen. "Wieder herrscht Krieg. Wieder geht es um furchtbare Gewaltverbrechen an der Zivilbevölkerung, um Hunger, Flucht, Folter, Vertreibung und Heimatverlust." Selbst zehn Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine und einer sich täglich verschärfenden Eskalation der Kämpfe – mittlerweile in weiten Teilen des Landes – reagieren Margret und Werner Müller immer noch mit Fassungslosigkeit auf diesen Einmarsch im Osten Europas. "Das ist zutiefst erschütternd. Täglich fragen wir uns, wie es unseren Freunden in Kiew wohl geht", erklären die beiden. "Was machen die Menschen dort gerade durch? Die Nachrichten lassen uns nicht mehr zur Ruhe kommen. In unserem Herzen sind wir bei all denen, die gerade in der Ukraine Schreckliches erleiden."
Schon einmal hätten gerade die älteren, inzwischen hochbetagten dort lebenden Menschen genau dieselben Traumata durchlebt. Dann – nach der Befreiung durch die Rote Armee aus den Lagern und Ghettos – hätten sie in den Folgejahrzehnten nur schwer die Kriegsereignisse hinter sich lassen und etwas Neues aufbauen können. "Jetzt wiederholt sich das Grauen. Dieselben Menschen verlieren wieder Angehörige, müssen zuschauen, wie ihre Städte brutaler Aggression, Brandbomben, Panzergeschossen und Raketen zum Opfer fallen. Ein zweites Mal stehen sie vor den Trümmern ihres Lebens."
Mehrere hundert Versöhnungsbesuche rund um Danzig gemacht
Seit fast 30 Jahren engagiert sich das Kölner Ehepaar ehrenamtlich im Maximilian-Kolbe-Werk (MKW), einer Hilfsorganisation für die Überlebenden der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die sich der Aussöhnung zwischen den Völkern verschrieben hat. Elisabeth Erb, die damalige Geschäftsführerin des MKW, wollte zunächst in Polen den Überlebenden der deutschen Konzentrationslager vermitteln, dass sie und das ihnen zugefügte Leid nicht in Vergessenheit geraten. Jeder ehemalige KZ-Häftling sollte einmal im Leben Besuch aus Deutschland bekommen. Später dehnt Erb ihr Engagement auf Menschen aus der Ukraine aus, die ebenfalls den Terror der Nazis überlebt hatten. "Dahinter steckte von Anfang an die Idee, dass diesen Opfern Jahrzehnte nach Kriegsende aktiv ermöglicht werden sollte, positive Erfahrungen mit Deutschen zu machen. Heute würde man das als vertrauensbildende Maßnahmen bezeichnen", sagt dazu Margret Müller, die in den letzten Jahrzehnten vor allem rund um Danzig mehrere hundert solcher Versöhnungsbesuche mit ihrem Mann gemacht hat. „Durch die Vermittlung unseres Dolmetschers, eines ehemaligen KZ-Häftlings, fanden wir bei den Besuchen immer offene Türen. Denn er stellte uns als Mitarbeiter des MKW vor.“
Zuvor hatte die 83-Jährige durch eine Initiative des Katholischen Deutschen Frauenbundes den ersten Kontakt zu Überlebenden des KZ Ravensbrück bekommen, so dass sie 1994 im Auftrag des MKW gleich zweimal nach Polen reist, um Überlebende der Konzentrationslager zu besuchen. Später macht sie solche Fahrten dann gemeinsam mit ihrem Mann, als dieser im Ruhestand ist. "Jeder unserer Besuche hat eigentlich immer heftige Emotionen ausgelöst, meist waren das sehr bewegende Begegnungen", beschreibt Werner Müller diese Treffen. "Dabei war es nicht damit getan, einmal 'Guten Tag' zu sagen", erinnert sich der heute 86-Jährige, der früher beim Verfassungsschutz gearbeitet hat. "Das Wichtigste war anzuerkennen, was diese Menschen im Krieg durchgemacht hatten; ihnen zu vermitteln, dass wir Deutsche dieses Leid selbst nach Jahrzehnten immer noch sehen. Und das war eigentlich immer wie ein Türöffner zu ihren Herzen."
Bei jeder dieser jährlichen Reisen hätten sie bis zu 100 Überlebende besucht. "Und nie gab es Ablehnung." Hinzu komme, so Müller, dass der Heilige Maximilian Kolbe in Polen sehr verehrt werde. "Man muss sich vorstellen, dass dort fast jede Familie einen Angehörigen durch die Gräueltaten der Nazis verloren hat. Und nun kommt jemand aus Deutschland und bringt ein offenes Ohr für dieses erlittene Leid mit, will die Erinnerung an diese unsagbare Ungerechtigkeit wach halten. Das macht etwas mit diesen Menschen, deren Geschichten so lange Zeit niemand hören wollte."
Da es inzwischen durch den Zerfall der Sowjetunion möglich geworden war, die Arbeit des MKW weiter nach Osten auszudehnen, lud das MKW 1996 dann auch die erste Gruppe überlebender Juden der Ghettos in der Ukraine nach Polen ein. Bei der Betreuung einer solchen Gruppe lernen die Müllers den jüdischen Historiker Boris Zabarko aus Kiew kennen. Als dieser erfährt, dass die polnischen Juden bereits über eine große Sammlung von Zeitzeugenberichten aus den 1940er Jahren verfügen, wird ihm schmerzlich bewusst, dass sie in der Ukraine nichts Vergleichbares haben. Er beschließt, nach dem Vorbild Polens nach Zeugnissen von geretteten ukrainischen Juden zu suchen und diesen Teil ukrainischer Geschichte systematisch aufzuarbeiten.
"Man darf nicht vergessen", erläutert Margret Müller, "Hitler wollte ein judenfreies Europa, und in der Ukraine ist ihm das auch fast gelungen. Überlebt hat nur, wer fliehen konnte. Wer aber Juden auf der Flucht half, riskierte, dass seine gesamte Familie liquidiert wurde." Die Müllers sagen Zabarko bei seinem Vorhaben ihre Unterstützung zu. Und so beginnt für sie eine jahrelange Recherche – auch mit aufwendigen Übersetzungsarbeiten – die für das Paar im Alter zur Lebensaufgabe wird. "Durch die persönlichen Begegnungen, die wir bei unseren Besuchen in Polen hatten, entstand bei uns ein Bewusstsein für die Verantwortung den Opfern gegenüber. Wir spürten die Verpflichtung, als Deutsche dazu beitragen zu müssen, dass die Verbrechen benannt und die Opfer nicht vergessen werden", unterstreicht Margret Müller nochmals. "Wir stellten fest, dass die Schoah in der Ukraine jahrzehntelang nicht thematisiert worden war, sich kaum jemand wirklich der Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen gewidmet hatte, geschweige denn, dass darüber offen gesprochen worden wäre oder es gar Literatur dazu gäbe."
Historiker Boris Zabarko erforscht Schicksal ukrainischer Juden
So ist in Deutschland bis auf das Massaker von Babi Jar, bei dem im September 1941 an zwei Tagen mehr als 33.000 Juden getötet wurden, so gut wie nichts über die NS-Verbrechen in der Ukraine bekannt. Das wollen die Müllers ändern. In Boris Zabarko, selbst Überlebender des Ghettos Schargorod in Transnistrien, finden sie einen Verbündeten. Als ehemaliges Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Kiew und der deutsch-sowjetischen Historikerkommission war der heute 86-Jährige, der inzwischen Präsident der Allukrainischen Assoziation der Jüdischen KZ- und Ghettoüberlebenden ist, einer der Ersten, die das Schicksal der Juden unter deutscher Besatzung in der Ukraine erforscht haben. Inzwischen sind daraus 20 Jahren geworden, in denen er Berichte Überlebender gesammelt und viele einst Verfolgte interviewt hat. Sechs Bände mit 640 Texten in russischer Sprache hat er dazu veröffentlicht.
Auch Margret und Werner Müller haben in den letzten Jahren verschiedene Publikationen zu ihren Recherchen herausgegeben, darunter das in Zusammenarbeit mit Zabarko im Metropol-Verlag erschienene Buch "Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine", das medial – auch aufgrund seiner Komplexität – große Beachtung gefunden hat. Hintergrund: Boris Zabarko hatte seine deutschen Freunde darum gebeten, 215 auf Russisch vorliegende Berichte von Überlebenden auf Deutsch zu veröffentlichen. "Wir haben diese Berichte durch Fakten aus russischer, amerikanischer, israelischer und deutscher Sekundärliteratur ergänzt. Außerdem haben wir zu den einzelnen Gebieten der Ukraine Übersichtskarten zeichnen lassen. Dadurch entstand eine Geografie des Holocaust", berichtet Margret Müller.
Aus diesem dicken Sammelband geht hervor, wie zielgerichtet und brutal die Schergen und Mordkommandos der damaligen deutschen Besatzer vorgingen. Da ist zum Beispiel die Geschichte von Alexandr Schwarz, der noch heute einen Albtraum durchlebt, wenn er sich an den Einmarsch der Deutschen 1941 in Lwiw erinnert. Mit 16 geriet er mit seinem Vater ins berüchtigte Zwangsarbeitslager Janowska nahe der Stadt, dem damaligen Lemberg. Dort wurden jüdische Häftlinge osteuropäischer und sowjetischer Herkunft für das Vernichtungslager Belzec selektiert oder auch gleich am Ort in den Sandhügeln hinter den Baracken erschossen. Nach einem Jahr Zwangsarbeit ist Alexandrs Vater so entkräftet, dass ihn beim Appell ein SS-Mann vor den Augen des Sohnes erschießt. Wieder ein Jahr später steht Alexandr selbst nackt auf dem Exekutionsplatz und entkommt seinen Mördern nur, weil er im richtigen Moment in die Erschießungsgrube springt, reglos unter den Leichen liegen bleibt und sich tot stellt. Später flieht er mit Todesangst unter den Kleidern von Ermordeten, die ein LKW in ein anderes Lager bringt. Hier arbeitet er beim sogenannten Schrottkommando und ist erneut den menschenverachtenden Schikanen der Lagerverantwortlichen ausgesetzt. Als das Lager aufgelöst wird und für ihn persönlich eine jahrelange Hölle endet, stellt der junge Mann fest, dass niemand außer ihm von seiner Familie überlebt hat. Vater, Mutter und Geschwister gehören am Ende des Krieges zu den insgesamt 1,5 Mio Juden in der Ukraine, die von Hitler ermordet wurden.
Von solchen erschütternden Zeugnissen zwischen 1941 und 1944, die anschaulich die dramatischen Ereignisse von einem Leben zwischen Hunger- oder Erfrierungstod, von Krankheiten, Massenverbrennungen in Synagogen, unzähligen Erschießungen und umherirrenden elternlosen jüdischen Kindern nachzeichnen, die zum Teil in Lagern und Ghettos geboren worden waren, ist das über 1100 Seiten starke Buch voll. "Viele Erinnerungen handeln immer von der großen Einsamkeit und Schutzlosigkeit dieser Kinder", sagt Werner Müller. "Denn die meisten Überlebenden waren ja Kinder, und sie haben oft mit ansehen müssen, wie ihre Eltern und Verwandten ermordet wurden. Das ist etwas, was man sich nicht vorstellen und kaum verkraften kann."
Oft zu Treffen mit Überlebenden nach Polen und in die Ukraine gereist
Wenn das Kölner Paar zu seiner Motivation befragt wird, Jahre seines Lebens dem Zustandekommen eines solchen Mammutwerkes gewidmet zu haben, ist die Antwort so schlicht wie überzeugend: "Wir mussten das einfach tun. Es gab vorher keinen persönlichen Bezug zur Ukraine, bis wir Kontakt zu Überlebenden fanden, denen wir eine Stimme geben wollten." Als einen "Kampf gegen das Vergessen" verstehen die Müllers ihre Arbeit. Und sie sei aktueller denn je – "erst recht, wenn sich nun auf so furchtbare Weise die Geschichte wiederholt", argumentieren sie. Als sie das erste Mal Menschen aus der Ukraine begegnet seien und diese unter Tränen bekannt hätten "Bei uns darf man über diese Verbrechen nicht sprechen" hätten sie Mut zu dieser Herausforderung gefasst. Zunächst sei das Buch aus Freundschaft und Solidarität heraus entstanden. "Aber irgendwann haben wir es als unsere Aufgabe betrachtet, über den Genozid an den sowjetischen und ukrainischen Juden zu berichten."
Sieben Mal reisten die Müllers in die Ukraine, um dort Überlebende zu treffen, noch häufiger nach Polen. "Seit 1993 hat unsere Versöhnungsarbeit für das Maximilian-Kolbe-Werk unser Leben geprägt und erfüllt. In dieser Zeit haben wir immer mehr zurückbekommen, als wir gegeben haben", resümiert Margret Müller. "Das macht uns zutiefst dankbar – auch für die vielen persönlichen Begegnungen, aus denen später sogar Freundschaft erwachsen ist."
Boris Zabarko ist einer dieser Freunde, dessen Schicksal sie erst recht jetzt seit Kriegsausbruch in der Ukraine noch intensiver begleiten. Anfang März hat der Historiker während seiner Flucht aus der Ukraine dem "Spiegel" ein Interview gegeben, in dem er zu dem aktuellen Angriffskrieg feststellt: "Eine entsetzliche, groteske Situation. Jetzt schießen die Nachfahren der Männer auf uns, denen wir unser Leben zu verdanken haben. Mein Vater ist im Zweiten Weltkrieg für die Sowjetunion gefallen, mein Onkel hat Budapest befreit. Wir haben überlebt dank der Roten Armee. Es ist so unendlich traurig, eine Katastrophe." Und er fährt fort: "Erneut sind wir umgeben von Blut, von Schmerz, von Tod. Ich kann das kaum in Worte fassen. Es ist die größte Tragödie des 21. Jahrhunderts, mitten in Europa."
Für Margret und Werner Müller darf es keinen Schlussstrich unter der Geschichte der Schoah geben. "Niemals", bekräftigen sie. "Bis heute ist diese Erinnerungsarbeit ein Wettlauf gegen die Zeit, denn die Menschen, die das Grauen überlebt haben, wird es bald nicht mehr geben."