DOMRADIO.DE: Die Geschichten in der Bibel sind immer noch revolutionär. Wie kann das sein? Die Texte sind ja zwei- bis dreitausend Jahre alt.
Christian Nürnberger (Spiegel-Bestseller-Autor): So ist es, ja. Aber was da vor 3000 Jahren formuliert worden ist, das war so neu und so unerhört und so revolutionär, dass es 3000 Jahre gedauert hat, bis Geschichten in einigen wenigen Ländern dieser Welt wirklich wahr wurden. Da steht zum Beispiel drin, dass vor Gott alle gleich sind. "Der Pharao in seiner Pracht zählt vor Gott nicht mehr als der Ziegenhirte in seinen Lumpen". Paulus hat das in den Satz gegossen: "Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freiheit, da ist nicht Mann noch Weib. Denn ihr alle seid Einer in Christus". Das ist eine Absage an jede Form von Nationalismus, Rassismus und Sexismus. Und trotzdem gibt es diese drei Pestilenzen immer noch.
DOMRADIO.DE: Was ist zum Beispiel ein Text zum Thema Gerechtigkeit, den Sie heute auch heute noch revolutionär finden?
Nürnberger: Das sind so Sätze, die, die sich mir eingeprägt haben, die da verstreut in der Bibel drinstehen und wie durch ein Wunder dann zu uns ins Grundgesetz gelangten, rund 3000 Jahre später. Beispiel: "Es darf keinen Armen unter euch geben". Da ist der Sozialstaat vorgedacht.
Oder: "Einen fremden Untertan, der vor seinem Herrn bei dir Schutz sucht, sollst du nicht ausliefern." Da ist das Asylrecht schon vorgedacht worden.
Oder das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung steht auch schon in der Bibel mit dem Satz: "Wenn du deinem Nächsten irgendein Darlehen gewährt, so sollst du nicht in sein Haus gehen, um ihm ein Pfand abzunehmen, sondern draußen stehenbleiben. Der, dem du borgst, soll das Pfand zu dir herausbringen".
Das sind so Sätze, die haben fast 3000 Jahre gebraucht, um ins Grundgesetz zu kommen. Und manche stehen immer noch nicht drin. Zum Beispiel gefällt mir einer, der sich durch seine unüberbietbare Menschlichkeit ausdrückt: "Ein Mann, der gerade erst geheiratet hat, darf nicht zum Wehrdienst eingezogen werden, weil der Dienst an seiner Familie wichtiger ist und er seine Frau erfreuen soll."
DOMRADIO.DE: Was können wir sonst noch zum Umgang mit Mächtigen aus der Bibel lernen?
Nürnberger: Die Bibel ist von Anfang an herrschaftskritisch. Und die herrschaftskritischsten ihrer damaligen Zeit waren die Propheten, das waren sozusagen die ersten Journalisten der Weltgeschichte, die den Mächtigen auf die Finger gesehen haben.
Und auch dazu gibt's eine schöne Geschichte, die das illustriert. Es ist die Geschichte von David und seinem Hauptmann Urija und dessen Frau Batseba. Auf die ist König David scharf, aber sie ist mit Uriija verheiratet. Er fängt trotzdem ein Verhältnis mit ihr an und schwängert sie. Und nun ist er in Not und muss diesen Urija irgendwie beseitigen. Und deshalb schickt er ihn an die Front und gab die Anweisung, ihn ins gefährlichste Getümmel zu schicken, damit er darin umkommt. Und so passiert es auch. Der Plan geht auf und David holt die Batseba an seinen Hof.
Aber dann kommt der Prophet Nathan ins Spiel und hält ihm einen Spiegel vor und macht ihm klar, wie schuftig er sich verhalten hat. Und das Erstaunliche daran ist nun - in jedem anderen Volk der Erde damals wäre der Prophet Nathan in den Kerker geworfen und enthauptet worden. Aber dieser David zeigt wahre Größe, sieht seine Schuld ein, bereut und hört weiterhin auf seine schärfsten Kritiker. Das ist das, wovon alle Journalisten träumen, dass die Mächtigen endlich auf sie gehören.
DOMRADIO.DE: Schauen wir mal auf biblische Texte über Frauen. Die werden ja auch heute noch oft genutzt, um Frauen in die Schranken zu weisen und sie zum Beispiel vom Priesteramt auszuschließen…
Nürnberger: Das hat natürlich damit zu tun, dass die Bibel von Männern geschrieben worden ist, die durchtränkt waren vom Geist der patriarchalischen Zeit, in der sie gewirkt haben. Und deshalb ist die Bibel auch die ganzen Jahrtausende hindurch patriarchalisch interpretiert worden.
Aber wenn man sie genau liest, dann sieht man, dass die Bibel nicht patriarchalisch ist. Wenn man zum Beispiel liest, dass es die Frauen waren, denen der Auferstandene zuerst erschienen ist. Es waren die Frauen, die als erste die Osterbotschaft den Männern verkündet haben, die sich verkrochen hatten und die es zunächst gar nicht glauben wollten. Maria Magdalena und andere Frauen haben als erste diese Freudenbotschaft von der Auferstehung verbreitet und damit die Existenz des Christentums begründet.
Und auch im Alten Testament lesen wir Geschichten von eigenständigen, selbstbewussten und mutigen Frauen. Und das, obwohl sämtliche Texte Männerwerk sind. Das deutet darauf hin, dass die Frauen doch so eine starke Rolle gespielt haben, dass die Männer nicht daran vorbeikamen. Und so ein Satz wie "Das Weib schweige in der Gemeinde" ist bestimmt nicht vom Heiligen Geist gewirkt, sondern eben vom patriarchalischen Geist.
DOMRADIO.DE: Diese Texte sind einfach sehr, sehr alt. Es hat sehr, sehr lange gedauert, bis sie zum Beispiel ins Grundgesetz gefunden haben. Warum ist das in jeder Generation aufs Neue so schwer, die Botschaften dahinter erst einmal zu verstehen und dann vielleicht auch tatsächlich umzusetzen?
Nürnberger: Ja, diese Antwort steht auch in der Bibel, und zwar in dem Satz "Weil wir allzumal Sünder sind". Jeder will der Nabel der Welt sein. Jeder strebt nach Macht, Besitz, Sex, Ruhm, Ehre. Und dabei kommen die vielen Näbel der Welt einander ins Gehege, behindern sich gegenseitig. Das macht sie wütend und so schlagen sie aufeinander ein. Das heißt, jeder kämpft für seine eigenen elementaren Interessen. Und er kämpft gegen alle anderen. Und dieses Kämpfen für die eigenen elementaren Interessen verhindert eben, dass man diese Welt wahr werden lässt, die da in der Bibel entfaltet wird.
Das Interview führte Hilde Regeniter.
Hinweis: Das Buch "Keine Bibel" ist im Verlag Thienemann-Esslinger erschienen.