domradio.de: Ist die genetische Diagnostik Segen oder Fluch?
Weihbischof Losinger: Der deutsche Ethikrat hat eine Stellungnahme veröffentlicht mit dem Titel "Die Zukunft der genetischen Diagnostik - Von der Forschung in die klinische Anwendung". Das heißt, alle Themen, die mit Genetik zu tun haben, mit Analysen auch im Hinblick auf mögliche menschliche Krankheiten, sind im deutschen Ethikrat sehr grundständig behandelt worden, und sie spiegeln viele Ängste und Erwartungen von Menschen wider. Auf der einen Seite verbinden sich mit verbesserten genetischen Analysemöglichkeiten große Hoffnungen, nämlich, dass Krankheiten diagnostiziert und geheilt werden können. Auf der anderen Seite gibt es allerdings auch unter vielen Menschen Ängste, die damit zu tun haben. Hier entsteht z.B. die Frage, ob es ein Recht auf Nichtwissen gibt. Nicht zuletzt ist die medizinische Wissenschaft selbst gefordert: Kann sie wirklich garantieren, dass genetische Analysen in jedem Fall zutreffen? Und dass die Prognosen, die daraus für die Gesundheitsentwicklung von Menschen gezogen werden auch in Wirklichkeit eintreffen werden.
domradio.de: Hinkt die Ethik da immer der Wissenschaft hinterher?
Weihbischof Losinger: Bei den Diagnostiken, die im Pränatalbereich spielen, müssen wir natürlich wissen: Hier handelt es sich um die Lebensperspektive eines werdenden Kindes! Da ist die Frage, ob eine Mutter tatsächlich Erkenntnis über die Genetik ihres Kindes haben kann und soll und darf. Und wenn etwa durch einen Pränatest an einem menschlichen Embryo ein genetischer Defekt festgestellt würde, dann benötigt man keine große Phantasie, um sich vorzustellen, was dann damit wird. In dieser vom Deutschen Ethikrat vorgelegten Studie gibt es auch zwei Sondervoten, eines davon habe ich mitunterzeichnet: Wir erlauben uns anzumerken, dass wir bei aller genetischen Diagnostik doch im Blick auf die Ergebnisse mit einem Wertungswiderspruch zurechtkommen müssen, nämlich: Wie kann eine Gesellschaft sich einerseits dafür stark machen, dass im Sinne von Inklusion der Mensch mit Behinderung in die Mitte der Gesellschaft gerückt werden muss, andererseits die Detektion eines genetischen Defekts wiederum ein hinreichender Grund für die Zerstörung eines Embryos sein soll. Das ist in meinen Augen ein Wertungswiderspruch!
domradio.de: Wie geht ein verantwortlich handelnder Christ mit diesen Fragen um?
Weihbischof Losinger: So wie alle Wissenschaft hat auch die Gendiagnostik immer zwei Seiten. Auf der einen Seite kann eine solche Untersuchung dazu führen, dass zum Beispiel die Feststellung von Defekten zu Tage tritt. Damit entsteht z.B. die Frage, ob ein Mensch mit diagnostizierten genetischen Defekten auch eine Lebens- und Krankenversicherung bekommen wird? Wird ein Arbeitgeber einen Gentest verlangen vor einer Anstellung? Auf der anderen Seite aber bringt die Gentechnik in der Medizin natürlich auch bedeutende Fortschritte in der Erkenntnis von Krankheiten, die geheilt werden können. Ein Beispiel: Nicht wenige Eltern bekommen ein Kind, bei dem Phenylketonurie festgestellt wird. Das ist eine genetisch bedingte Krankheit, die zu schweren Gehirnstörungen führt. Hier gibt es aber eine äußerst einfache Therapie, die im Grunde in einer Diät besteht. Wenn die Ernährung eines Kindes von Anfang an in einer solchen Diät läuft, gibt es keine negativen Folgen aus dieser schweren Erkrankung.
domradio.de: Was ist Aufgabe der Kirche?
Weihbischof Losinger: Die Kirche muss bei diesen Themen immer am Ball bleiben, denn der unaufhaltsame Fortschritt der Wissenschaft ist ja nicht in sich neutral, er muss durch die Menschen geprägt und entwickelt werden. Wissenschaftliche Ergebnisse haben immer zwei Seiten, sie müssen in eine positive Richtung im Blick auf die Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen gelenkt werden. Das ist bei vielen Themen so: Friedliche Nutzung der Kernkraft, Grüne Gentechnik, der Umgang mit Pestiziden und gentechnischen Pflanzen, und all die schwierigen Zusammenhänge in der Hirnforschung, der Genforschung und der Medizin, wo Menschen geheilt aber auch unter Umständen mit schwierigen Problem konfrontiert werden können.
Das Interview führte Ingo Brüggenjürgen.