Weihnachten ist ein religiöses Fest. Eigentlich. Die Bindung der deutschen Bevölkerung an die christlichen Kirchen hat in den vergangenen Jahren jedoch stark nachgelassen - die Austrittszahlen sind nach wie vor hoch, wie katholische und evangelische Kirche jedes Jahr einräumen müssen. Und doch geht es an Weihnachten um Maria, Josef und die Geburt Jesu. Besonders in den traditionellen Liedern, allen voran "Stille Nacht". Ist das weihnachtliche Liedgut also die letzte Bastion der christlichen Weihnachtsbotschaft, wenn zwischen Imbissbuden und Verkaufsständen auf den Weihnachtsmärkten "Oh du Fröhliche" erschallt?
Allerdings hat es der in der Adventszeit im Radio omnipräsente "Wham!"-Hit "Last Christmas" in einer Umfrage kurz vor Weihnachten 2016 bereits zum zweitbeliebtesten Weihnachtslied nach dem Klassiker "Stille Nacht" gebracht. Und in "Last Christmas" geht es nun eben nicht um Christi Geburt, sondern um enttäuschte Liebe. Weihnachten im theologischen Sinn ist aber so ziemlich das Gegenteil davon - nämlich die Menschwerdung Gottes aus Liebe zu den Menschen.
Winterworld-Musik
Natürlich gebe es noch das religiöse Liedgut und die religiös geprägte weihnachtliche Musik, sagt etwa Guido Fuchs. Der Liturgie-Wissenschaftler ist unter anderem an der Universität Würzburg tätig. Daneben habe sich aber seit Jahrzehnten eine Richtung entwickelt, die Fuchs Winterworld-Musik nennt. Vom Schnee und von "Christmas" sei hier die Rede, oft garniert mit dem Klingeln von Schlittenglöckchen.
Kritisch sieht das Günter Leykam, Kirchenmusiker, Sänger, Lehrer und Leiter verschiedener Ensembles aus Bayreuth. Gerade im Bereich der volkstümlichen Musik würden sentimentale Texte versuchen, einen Zusammenhang zu Weihnachten herzustellen. "Hier sollen Emotionen gezeigt werden - aber ohne Verbindlichkeit. Es soll gar nicht in die Tiefe gehen. Die Menschen sollen möglichst wenig nachdenken."
Siegfried Macht, Professor für Kirchenmusik-Pädagogik an der Hochschule für evangelische Kirchenmusik in Bayreuth, unterscheidet bei der Weihnachtsmusik zwischen den Gottesdiensten und dem Privaten. Im familiären Bereich beobachte er schon den Einzug von Pop- oder Schlager-ähnlichen Liedern. In den Kirchen dagegen sei noch das traditionelle Liedgut vorherrschend: "Hier suchen viele Menschen geradezu das alte, vertraute Gefühl."
Tradition bei Liedern in der Kirche
Gegen die Tradition, wenn alle Lichter in der Kirche gelöscht werden und "Stille Nacht" gesungen wird, haben eben neue Lieder zumindest innerhalb der Kirchenmauern keine Chance. Es würden zwar moderne Weihnachtslieder komponiert, sagt Macht, jedoch vergleichsweise wenige im Bereich des neuen geistlichen Liedes.
Das beklagt auch Fuchs. In einem Aufsatz nach Erscheinen des neuen katholischen Gotteslobs kritisierte er: "Die Liedauswahl für Advent und Weihnachten im Stammteil des neuen Gotteslobes ist enttäuschend. Für ein Gesangbuch aus dem Jahr 2013 hätte man etwas anderes erwartet." Das neueste Weihnachtslied stamme aus dem Jahr 1938. Dabei habe sich gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Sicht auf Weihnachten erneuert, Weihnachten sei ein revolutionäres Fest. Gott werde Mensch, die Erniedrigten werden erhöht, die Menschen erhielten einen Anteil an der Würde Gottes. Im Liedgut im Gotteslob zeige sich das aber nicht. "Man begnügt sich damit, an der Krippe anbetend stehenzubleiben. Der Impuls, mit der unerhörten Botschaft hinauszugehen, ja zu handeln, wurde unterdrückt."
Kirchlicher Bezug bei Weihnachtsmusik erwünscht
Weit weniger pessimistisch schätzt Günter Leykam die Lage ein. Als Chorleiter habe er festgestellt, dass gerade junge Chorsänger sich einen kirchlichen Bezug bei Weihnachtsmusik wünschen. "Sie können sich Weihnachtslieder ohne christlichen Bezug gar nicht vorstellen. Das hat mich sehr gefreut." Für Chöre gebe es sehr wohl moderne christliche Weihnachtslieder. "Es gefällt den jungen Menschen sehr, das zu musizieren." Und: Weihnachtslieder ohne christlichen Bezug sind gar keine moderne Erfindung. Das traditionelle "Oh Tannenbaum" kommt ebenso ohne religiöse Motive aus wie "Morgen kommt der Weihnachtsmann" von Hoffmann von Fallersleben (1798–1874).
Den Erfolg des eigenen - säkularen - Lieds "In der Weihnachtsbäckerei" dagegen bedauert der Kinderliedermacher Rolf Zuckowski fast ein wenig. "Wenn mir jemand schreibt, er könne sich den Heiligabend ohne dieses Lied nicht mehr vorstellen, macht mich das traurig. Denn mit dem Heiligenabend hat dieses Lied überhaupt nichts zu tun", betonte er in einem Beitrag eines Familienblogs. Wenn es aber für Menschen einen ähnlichen Stellenwert wie "Stille Nacht" erreicht habe, sei er als Komponist und Textdichter machtlos.