Mitternacht war die Stunde des Pathos, genährt durch Entsetzen wie auch Erleichterung. Nachdem Einsatzleiter Jean-Claude Gallet mitgeteilt hatte, dass die brennende Kathedrale Notre-Dame gerettet werden kann, trat Staatspräsident Emmanuel Macron vor die Mikrofone und versicherte der geschockten Nation: "Wir werden diese Kathedrale gemeinsam wieder aufbauen" - und zwar schöner als je zuvor und binnen fünf Jahren.
Es sollte ein Trost sein für die Franzosen, die schwankten zwischen ungläubigem Kopfschütteln und Stoßseufzern. Einerseits waren die Schäden riesig; andererseits fehlte nicht viel, dass eine der wichtigsten Kirchen der Welt rettungslos verloren gewesen wäre. Doch offenbar hat die Pariser Feuerwehr an jenem 15. April 2019, vor einem halben Jahr, das allermeiste richtig gemacht. Rund 400 Einsatzkräfte kämpften wie die Löwen.
Renovierung nach dem "letzten bekannten Zustand"
Die Schadensaufnahme: der mittelalterliche Dachstuhl, die originale Eichenkonstruktion aus dem 13. Jahrhundert - verloren. Teile der Gewölbekuppeln: eingestürzt. Eines der ersten Opfer war der 96 Meter hohe hölzerne Vierungsturm aus dem 19. Jahrhundert. Er brach unter den Flammen und dem Stöhnen der Bevölkerung am Seine-Ufer in sich zusammen. Temperaturen von bis zu 1.000 Grad, Rauch, aber auch Löschwasser fügten dem Mauerwerk schwerste Schäden zu. Dazu kommt eine immense Bleikonzentration in und um die Kirche, Hinterlassenschaft der geschmolzenen Dächer. Dieses Gesundheitsrisiko besorgt vor allem die Anwohner, aber natürlich auch Arbeiter und Restauratoren.
In die anfangs hitzig geführte Debatte um Tempo und Stil des Wiederaufbaus ist zuletzt scheinbar etwas mehr Ruhe und Besonnenheit eingekehrt. Auch von dem forschen Ex-General Jean-Louis Georgelin, den Präsident Macron aus dem Ruhestand geholt und zu seinem Feldmarschall für den Wiederaufbau ernannt hatte, sind zuletzt keine markigen Töne mehr zu hören wie etwa, einem französischen General sei "nichts unmöglich".
Auch ein Architektenwettbewerb hatte für einige Furore gesorgt, befeuert auch durch Macrons Appelle für einen "erfinderischen" Wiederaufbau "zwischen Tradition und Moderne" und einen "respektvollen Wagemut". Was es da nicht alles an Vorschlägen gab: ein gläsernes Dach wie beim Berliner Reichstag von Sir Norman Foster; ein riesiges Treibhaus, vielleicht zur Tomatenzucht. Und ein schwedisches Büro will gar ein Schwimmbad auf dem Dach von Notre-Dame errichten.
Natürlich: Die Pariser haben wenig Scheu vor krassen Entwürfen; das Centre Pompidou, der Eiffelturm, der Arc de Triomphe, die Glaspyramide am Louvre oder Sacre-Coeur auf dem Montmartre zeugen davon. Doch Frankreichs Senat baute in das Wiederaufbau-Gesetz einen Zusatz ein, demgemäß die Renovierung nach dem "letzten bekannten Zustand" erfolgen solle. Mittlerweile scheinen eher die Rufe der Denkmalpfleger um Chefarchitekt Philippe Villeneuve durchzudringen: nach einer gründlichen Bestandsaufnahme und Sicherung statt eines hektischen Aktionismus; aber auch nach einer originalgetreuen Rekonstruktion statt modernistischer Experimente.
Noch keine Richtungsentscheidungen gefällt
Bis auf die notwendigen Sicherungsmaßnahmen sind bislang noch keine Richtungsentscheidungen gefällt. Und zuletzt äußerten sich Verantwortliche des Staates eher defensiv. Kulturminister Franck Riester sagte Mitte September dem "Parisien", die Arbeiten zur Stabilisierung des Bauwerks dauerten noch bis Anfang 2020 an. Man sei nicht "auf einen Kalender fokussiert"; er spüre keinen Druck, und es gebe "keine Obsession".
Die Finanzierung scheint einstweilen auf sicheren Füßen zu stehen. Ende September gaben die Großspender der Unternehmerfamilien Pinault und Arnault insgesamt 380 Millionen Euro für die Instandsetzung frei.
Im Spätsommer waren nach Angaben des Kulturministeriums von den zunächst zugesagten Spenden von insgesamt rund 850 Millionen erst gut zehn Prozent eingegangen.
Inmitten all der Diskussionen bemüht sich die Kirchenleitung, Zeichen geistlichen Lebens zu setzen. Mitte Juni feierte der Pariser Erzbischof Michel Aupetit in einer Seitenkapelle die erste Messe nach dem Großbrand - mit Schutzhelm. Und der Architektenidee einer Übergangskathedrale auf dem Vorplatz von Notre-Dame erteilte das Domkapitel eine Absage. Stattdessen finden die Gottesdienste in einer nahe gelegenen Kirche statt.