DOMRADIO.DE: Wladimir Putin spricht explizit davon, die Gebiete in der Ostukraine anzuerkennen, weil dort die russisch-orthodoxen Christen unterdrückt werden und Gewalt von Seiten der ukrainischen Regierung ausgesetzt sind. Stimmt das?
Regina Elsner (Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin): In dieser Aussage ist einiges fragwürdig. Es handelt sich zum einen in der Ukraine um ukrainisch-orthodoxe Gläubige, nicht um russische, das ist bereits Teil der Propaganda. Inhaltlich bezieht sich Putin dabei vermutlich auf die Umstände, die die "Ukrainische Orthodoxe Kirche", die zum Moskauer Patriarchat gehört, seit der Gründung der unabhängigen "Orthodoxen Kirche der Ukraine“ 2018/19 begleiten.
Es wurde damals eine unabhängige ukrainische orthodoxe Kirche gegründet, gegen den ausdrücklichen Willen des Patriarchats von Moskau, zu dem die meisten Gläubigen in der Ukraine zu diesem Zeitpunkt gehört haben. Seitdem gab es zum einen teilweise gewaltsame Übernahmen von Kirchgemeinden.
Das sollte eigentlich ein sehr demokratischer Prozess sein, der vielerorts auch demokratisch und friedlich abgelaufen ist. Dass Gemeinden sich in Zukunft entscheiden konnten, zur einen oder zur anderen Kirche zu gehören. Es gab aber eben auch Einzelfälle, in denen es bei diesen Kirchenübernahmen zu Gewalt kam. Das ist das eine, worauf er sich bezieht
Das andere ist wahrscheinlich ein Gesetzentwurf, der seit mehreren Monaten auf Eis liegt, aber auch immer noch nicht vom Tisch ist, bei dem es darum ging, die "Ukrainische Orthodoxe Kirche", die zum Moskauer Patriarchat gehört, zu verpflichten, ihren Namen zu ändern in "Russische Orthodoxe Kirche in der Ukraine", damit für jeden Gläubigen, jede Gläubige deutlich werden würde, in welche Kirche sie gehen.
Dahinter steht die Überzeugung bei vielen Ukrainerinnen und Ukrainern, dass die "Ukrainische Orthodoxe Kirche" des Moskauer Patriarchats eine fünfte Kolonne Russlands ist und russische Propaganda in der Ukraine betreibt.
Das wird der ukrainischen Identität dieser Gläubigen nicht gerecht, auch von der ukrainischen Seite aus. Aber Putin hat damit im Prinzip ein Argument, zu sagen, diese Kirche sei unterdrückt. Und damit laufen auch Vertreter der "Ukrainischen Orthodoxen Kirche" seit mehreren Monaten durch europäische Institutionen und legen dar, wie sie von der aktuellen ukrainischen Regierung unterdrückt werden. Darauf bezieht er sich mit dieser Aussage.
DOMRADIO.DE: Nochmal explizit nachgefragt: Wenn Putin von Gewalt gegenüber russisch-orthodoxen Christen von Seiten der Ukraine spricht, hat er also Recht?
Elsner: Man kann das so direkt und allgemein nicht sagen. Zum einen muss man unterscheiden, wer "die Ukraine" ist, die da angeblich unterdrückt. Bei den Fällen von einzelnen, gewaltsamen Kirchengebäude-Übernahmen, kann man gar nicht so genau unterscheiden, ob das ukrainische Verwaltungseinheiten sind, die da Druck ausüben und zur Gewalt anstacheln oder ob das nicht einfach auch nationalistische Gruppierungen in der Ukraine sind, die überhaupt nichts mit einer systematischen Verfolgung von Staatsseite aus zu tun haben, sondern eben lokale Einzelfälle sind.
Das zweite, was man beachten muss, ist, dass es diese Übergriffe überhaupt nicht in der Ostukraine gab und besonders nicht in den besetzten Gebieten, wo die Ukraine keinen Einfluss hat. Also weder in den besetzten Gebieten der sogenannten Volksrepubliken, denn dort ist nur die "Ukrainische Orthodoxe Kirche" des Moskauer Patriarchats überhaupt erlaubt und hat Religionsfreiheit unter den Besetzern, aber auch nicht in den nicht besetzten Gebieten der Ostukraine. Da sind diese Fälle eben überhaupt nicht vorgekommen, sondern das sind Fälle, die vor allem in der Westukraine stattgefunden haben.
DOMRADIO.DE: Also kann man gar nicht davon sprechen, dass in diesen besetzen Gebieten die Christen unterdrückt werden. Das ist de facto nicht so?
Elsner: Also auf jeden Fall nicht die Christen der "Ukrainischen Orthodoxen Kirche". Alle anderen Gläubigen haben dort schon mit sehr starker Unterdrückung und Repressionen zu leben, aber nicht von der ukrainischen Regierung, sondern von den Separatisten. Gerade die Christen der orthodoxen Kirche, die zum Moskauer Patriarchat gehören, haben dort eigentlich keine Gewalt zu befürchten. Das ist Teil der Propaganda, mit der Putin jetzt quasi göttlich legitimiert, dass er dort die Grenze überschreitet.
DOMRADIO.DE: Geht es ihm denn wirklich um diese "Verfolgung" der orthodoxen Christen oder ist das ein vorgeschobenes Argument, um dem Einmarsch mehr Legitimität zu geben?
Elsner: In jedem Fall sind diese Argumente Teil einer größeren Legitimierungsstrategie, die Putin da betreibt und die sind auch nicht neu. Also schon bei der Annexion der Krim hat die Erzählung davon, dass die Ukraine eigentlich zum orthodoxen zivilisatorischen Raum Russlands gehört und nicht selbstständig ist und deswegen Russland einen Anspruch darauf hat, dort zu agieren, schon eine riesige Rolle gespielt.
Und das zieht sich durch seine gesamte Geschichtskonstruktion, dass der Ukraine genauso wie der ukrainischen Orthodoxie eigentlich die Selbstständigkeit abgesprochen wird und man immer davon ausgeht, dass man gemeinsame historische Wurzeln hat, dass die Ukraine immer quasi ein Anhängsel Russlands und des russischen Imperiums und der großen russischen Erzählung war.
Das hat Putin selber immer auch durch die Kirche und durch kirchliche Argumente untermauert. Und die orthodoxe Kirche in Moskau hat ihm da auch nie widersprochen, sondern das eigentlich selber unterstützt und mit am Aufbau dieser großen Erzählung mitgewirkt. Das ist eine sakrale Legitimation des politischen Vorgehens.
DOMRADIO.DE: Und wenn Christenverfolgung als Argument kommt, dann hat das mehr Legitimation als reine politische Argumente.
Elsner: In jedem Fall. Man schützt verfolgte Christen. Das ist im Übrigen auch nicht nur im Fall der Ukraine ein Argument der russischen Außenpolitik. Man hat das auch im Fall von Syrien und vom Nahen Osten gesehen, wo Russland interveniert hat. Man sieht es auch in Afrika, bei den Aktivitäten Russlands. Da spielt immer der Schutz verfolgter Christen eine große Rolle. Und die russisch-orthodoxe Kirche untermauert diese Argumentation ganz stark mit ihrer Sichtweise darauf, dass die "Russische Orthodoxe Kirche" quasi der Schutz verfolgter Christen in der ganzen Welt ist.
DOMRADIO.DE: Kann man denn die aktuelle Situation mit dem vergleichen, was 2014 auf der Krim passiert ist? Also gab es da ähnliche Bestrebungen bei den Kirchen?
Elsner: Das hat schon gewisse Parallelen. Auch da gab es natürlich Gemeinden der verschiedenen orthodoxen Kirchen. Damals gab es noch nicht die unabhängige Ukrainische Kirche, inzwischen gibt es die auch dort, aber sie hat große Schwierigkeiten, sich dort überhaupt zu registrieren, weil es halt nach russischem Recht geht.
Auch gerade bei der Annexion der Krim, hat die religiöse Legitimation eine große Rolle gespielt. Da hat damals Putin in seiner berühmten Krim-Rede auch ausdrücklich auf die gemeinsamen Wurzeln des Christentums von Ukraine und Russland hingewiesen und damit sein Agieren legitimiert. Das ist jetzt quasi im Osten der Ukraine das Gleiche, nur mit dem zusätzlichen Argument der Christenverfolgung.
Man merkt daran und kann daran schon erkennen, dass es natürlich nicht nur um diese Volksrepubliken geht und um den Osten der Ukraine, sondern dass es eigentlich um die gesamte Ukraine geht, die dort zum eigenen Einzugsterritorium gezählt wird.
DOMRADIO.DE: Besonders schweigsam ist im aktuellen Konflikt der Mokauer Patriarch Kyrill I. Der ist einerseits eng mit Wladimir Putin verbunden, aber auch für seine Christen in der Ukraine mit verantwortlich? Steckt er im Gewissenskonflikt?
Elsner: Bis jetzt schweigt der Patriarch tatsächlich komplett zu dieser ganzen Situation. Es gibt keine einzige Äußerung von ihm. Und das liegt vermutlich genau an diesen Faktoren. Zum einen ist er in die Enge getrieben, einfach auch durch seine jahrelange Unterstützung der russischen Politik. Wenn Putin kirchliche Argumente nutzt, dann ist es für ihn natürlich unmöglich, hier zu widersprechen. Nachdem man seit Jahren genau diese Erzählung mit gefördert hat.
Und zum anderen hat er natürlich die große Gefahr vor Augen, dass er die Gläubigen in der Ukraine endgültig verliert, sobald er sich auf die Seite der russischen Argumentation stellt. Das ist die gleiche Situation, wie mit der Annexion der Krim. Auch in diesem Fall gibt es, glaube ich, bis heute keine offizielle Äußerung der "Russischen Orthodoxen Kirche".
Das erklärt sein Schweigen bis jetzt. Und ich bin gespannt, oder ich erwarte ehrlich gesagt nicht, dass es da irgendeine kritische oder in irgendeiner Hinsicht distanzierte Äußerung vom Patriarchen geben wird.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.