DOMRADIO.DE: Wir leben in einer Zeitenwende. Menschen machen sich Sorgen. Machen Sie sich auch Sorgen?
Karin Kortmann (MdB, Sprecherin des Arbeitskreises Christinnen und Christen in der SPD / AKC): Ja, auch ich mache mir große Sorgen, wenn ich an die Menschen in der Ukraine denke, die jeden Tag um ihr Leben kämpfen. Ich mache mir auch große Sorgen um diejenigen, die in Israel und im Gazastreifen leben, weil ich nicht weiß, wo die Grundlage für Friedensverhandlungen ist.
Ich bin vor allen Dingen auch besorgt, dass es uns scheinbar immer weniger gelingt, Demokratie und Frieden weltweit zu sichern und es als ein gemeinsames Ziel zu erachten, in Frieden und Eintracht zu leben. Gleichermaßen verspüre ich eine unglaubliche Ohnmacht, dass ich gar nicht mehr genau weiß, wo politische Lösungen zu suchen sind und was ich als einzelne Person dazu beitragen kann.
DOMRADIO.DE: Auf der Veranstaltung des Forums "Kirche und Politik" der SPD-Bundestagsfraktion und des Arbeitskreises Christinnen und Christen in der SPD (AKC) heute in Berlin wird es auch um eine gemeinsame Wertebasis in Deutschland gehen. Sind uns die Werte hier abhandengekommen?
Kortmann: Nein, die gemeinsame Wertebasis ist uns Gott sei Dank nicht abhandengekommen. Dafür haben schon die Mütter und Väter des Grundgesetzes gesorgt, als sie vor 75 Jahren den wichtigen Artikel 1 verfasst haben. Die Würde des Menschen ist unantastbar und der Staat hat sie zu achten und zu schützen. Das schließt ganz wichtige weitere Werte mit ein: Solidarität, Mitmenschlichkeit, Schutzgarantie, Hilfeleistung in Not und insgesamt gemeinwohlorientiert zu leben und zu handeln. Darum ist es mir nicht bange.
Bange ist es mir dann, wenn wir glauben, dass Werte per se stehen, dass wir nicht für sie eintreten müssen, dass wir nicht um ihren Bestand kämpfen müssen, dass wir uns der Verantwortung entziehen, die Werte nicht zu vermitteln und nicht mehr den Schneid haben, sie immer wieder vorzuleben.
DOMRADIO.DE: Wie kriegt man denn gemeinsame Werte so zurück, um eine gute Zukunft zu sichern?
Kortmann: Werte sind nichts Statisches oder etwas, das man nachlesen und sich aneignen kann. Vielmehr müssen sie vorgelebt werden. Sie brauchen Vorbilder. Sie brauchen den Lackmustest des Alltags. Werte sind Regeln, die es uns erleichtern und helfen, dass 83 Millionen Menschen in Deutschland zusammenleben können und dass wir Rücksicht auf unterschiedliche Befindlichkeiten nehmen, sei es kultureller, politischer oder religiöser Art.
Viele Dinge, die uns vor 20 Jahren noch völlig fremd waren, sind heute selbstverständlich geworden. Gerade deswegen, weil wir miteinander in einen Austausch gegangen sind und abgestimmt haben, was unsere Gesellschaften trägt und was wir auch als gemeinsames Wertefundament erhalten wollen.
DOMRADIO.DE: Das Zusammenleben mit anderen Religionen und Kulturen ist manchmal schwieriger, als wir uns das eingestehen möchten. Dieses Thema besetzt deswegen vergleichsweise "erfolgreich" die AfD. In einer jüngeren Umfrage der Bertelsmann Stiftung erwarten 78 Prozent der Befragten Mehrkosten für den Sozialstaat durch Zuwanderung, drei Viertel befürchten Wohnungsnot in Ballungsräumen und über zwei Drittel sorgen sich um Probleme in den Schulen. Was, wenn die etablierten Parteien diese Befürchtungen nicht ernst nehmen?
Kortmann: Dass die AfD das Thema "erfolgreich" besetzt, möchte ich entschieden widersprechen. Erfolgreich höchstens in dem Sinne, dass sie damit nach Wählerstimmen fischt. Aber erfolgreich in dem Sinne, dass sie zu einer Weiterentwicklung unserer Gesellschaft zu einem Zusammenhalt beiträgt, wahrlich nicht.
Wir erleben doch jeden Tag in den Äußerungen der AfD, wie sie spaltet, wie sie polarisiert, wie sie zum Widerstand aufruft. Die Partei schürt unerträglichen Hass und nimmt auch billigend Straf- und Gewalttaten in Kauf.
All das ist nicht gemeinwohlorientiert. All das ist nicht im Sinne unserer Demokratie und unserer Verfassung. Die Studie zeigt einen wichtigen Punkt: Menschen vertrauen den Parteien, die ihnen helfen ihre Probleme zu lösen, zu denen sie selbst nicht mehr oder zurzeit nicht imstande sind.
Das müssen SPD, CDU, die Grünen und die FDP jeden Tag im Bund und in den Bundesländern unter Beweis stellen, um aus dieser Vertrauenskrise herauszukommen. Da ist noch eine ganze Menge zu tun, aber nicht mit den Feinden unseres Demokratie- und Rechtsstaates.
DOMRADIO.DE: Sie moderieren heute auf dem Forum in Berlin das Podium "Unterwegs in unser gutes Land und in unsere gute Welt von morgen". Um was wird es Ihnen gehen? Was wollen Sie herausbekommen?
Kortmann: Wir leben in einer Zeit der allergrößten Umbrüche und Veränderungen. Viele Menschen sind verunsichert und resigniert, weil sie nicht mehr genau wissen, wohin sich ihr Leben und wohin sich ihre Gesellschaft entwickelt. Wir wollen einen neuen Aufbruch wagen, um mit mehr Zuversicht und Hoffnung die Zeiten zum Guten zu wenden.
Dafür gehen wir in den Austausch und in den Dialog mit Vertretern und Vertreterinnen aus katholischen und evangelischen Werken und Verbänden. Wir haben unter anderem Renovabis, Brot für die Welt, die Katholische Landjugendbewegung als Gesprächspartner dabei und sind sicher, dass wir gemeinschaftlich einen neuen Aufbruch wagen können.
Das Interview führte Tobias Fricke.