Papst Johannes Paul II. war in mehrfacher Hinsicht ein Mann der Rekorde: erster Nicht-Italiener als Papst seit 500 Jahren, erster slawischer Papst überhaupt, mehr als 100 Auslandsreisen und die Amtszeit war auch rekordverdächtig lang. Dann wurde er auch noch sehr schnell heiliggesprochen.
Sein direkter Vorgänger war nur 33 Tage im Amt - es gibt für den Seligsprechungsprozess also deutlich weniger Akten zu begutachten - aber vermutlich bis nächstes Jahr dauert es wohl noch, bis der 1978 so plötzlich verstorbene Papst zur "Ehre der Altäre" erhoben wird. Bei Johannes Paul II. ging es dagegen äußerst schnell: nur sechs Jahre nach seinem Tod wurde er von seinem direkten Nachfolger Benedikt XVI. selig-, 2014 dann von Papst Franziskus heiliggesprochen.
Schon bei der Beerdigung des polnischen Papstes 2005 schallten "Santo subito"-Rufe, also "Sofort heilig" über den Petersplatz. Eigentlich ist es rechtlich so geregelt, dass erst fünf Jahre nach dem Tod der betreffenden Person das Verfahren begonnen wird. Doch Benedikt XVI. ließ das Verfahren schon ein Jahr später eröffnen.
Schnelligkeit vor Gründlichkeit?
Doch genau in der Eile kann auch ein Problem liegen, sagt der Kirchenhistoriker Prof. Dr. Klaus Unterburger von der Universität Regensburg: "Es ist die Frage, ob man sich nicht etwas mehr Zeit hätte lassen können, bevor man dann zur Heiligsprechung geschritten ist." Vor allem der Umgang mit Missbrauchstätern und die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt generell während der Amtszeit des polnischen Papstes wird heute kritisch beurteilt.
2020 hatte der Vatikan einen Bericht über den aus dem Klerikerstand entlassenen US-Kardinal McCarrick vorgelegt. In dem Papier wird ein systemisches Versagen der Kirchenhierarchie deutlich, seit den 90er-Jahren kursierende Hinweise auf moralisches Fehlverhalten des damaligen Bischofs ernstzunehmen; dazu gehörte auch ein Missbrauch seiner Machtposition für die sexuelle Ausbeutung erwachsener Priesteramtskandidaten und Geistlicher.
Wohl noch schwerer wiegt der Fall beim Gründer der Kongregation der Legionäre Christi, Marcial Maciel. Zu dem mexikanischen Priester hatte Papst Johannes Paul II. ein enges Verhältnis, obwohl es schon seit mindestens den 1970er Jahren Vorwürfe wegen sexualisierter Gewalt gegen den charismatischen Priester gab. Etwa 60 Kinder und Jugendliche hat er missbraucht, eine spätere vatikanische Untersuchung attestierte dem Ordensmann angesichts seiner unglaublichen Verbrechen ein Leben "ohne echte religiöse Gesinnung".
Erst unter Benedikt XVI. war Maciel die Leitung der Legionäre überhaupt entzogen worden. Dass Johannes Paul II. nicht noch schneller seliggesprochen wurde, führen Beobachter genau auf diesen Umstand zurück, dass der damalige Papst entsprechenden Hinweisen nicht nachgegangen war, beziehungsweise McCarrick und Maciel geglaubt hatte, die ihm stets ihre Unschuld versicherten. "Die Frage ist, ob nicht doch in diesem Bereich der Papst, wie viele in der Kirche, ein Stück weit weggesehen hat oder das in der Ausübung seines Amtes falsch eingeschätzt hat. Da gibt es ja zahlreiche Fälle im Pontifikat Johannes Pauls II.", sagte in diesem Zusammenhang Kirchenhistoriker Unterburger 2020 gegenüber DOMRADIO.DE
Ein Heiliger muss kein heiliges Leben führen
Dass ein Heiliger ein Leben ohne Fehl und Tadel führt, ist allerdings gar nicht Voraussetzung für eine Heiligsprechung, betonte Unterburger in dem Interview: "Es geht vielmehr darum, dass man im Glauben, Hoffnung, Liebe in den Tugenden, so herausragend dem Anruf der Gnade gefolgt ist, dass man sein Leben ganz dafür eingesetzt hat. Und das bezeugt man."
Doch warum wurde der polnische Papst, trotz der Zweifel besonders im Umgang mit der Aufklärung von sexualisierter Gewalt, nur neun Jahre nach seinem Tod heiliggesprochen, während Johannes Paul I. lediglich 33 Tage im Amt war, bis heute für seine Menschenfreundlichkeit und Demut gerühmt wird, sein Seligsprechungsverfahren aber immer noch läuft, obwohl es bereits 2003 eröffnet wurde? "Wenn man es vergleicht mit Johannes Paul II. und mit Paul VI., dann kann man sagen, dass sich das Verfahren lange hinzieht. So ganz ist mir das nicht verständlich, weil wir von vornherein gesehen haben, dass wir einen Papst gehabt haben, der nur kurz im Amt war. Es gibt in Rom ein Sprichwort, das man bei kurzen Pontifikaten äußert: 'Mehr gezeigt, als gegeben'. So schätzt der Vatikan-Experte Ulrich Nersinger die Gründe für das eher schleppende Verfahren für den 33-Tage-Papst ein, dessen 43. Todestag vergangene Woche am 28. September war.
Auch wenn es bei Johannes Paul I. eher langsam voran geht, gehört er doch zu einem Trend, der in den letzten 20 bis 30 Jahren immer stärker geworden zu sein scheint: Päpste sprechen Päpste heilig!
Fast jedem Papst "droht" die Seligsprechung
Wer im 20. Jahrhundert Papst gewesen ist, wird dem Anschein nach fast automatisch selig- oder heiliggesprochen. Es existieren nur wenige Ausnahmen - etwa beim eigentlich sehr anerkannten Friedenspapst Benedikt XV. (1914-1922) gibt es kein Verfahren, ebenfalls nicht bei Pius XI. (1922-1939), der mit seiner Enzyklika "Mit brennender Sorge" die Politik und die Ideologie der Nationalsozialisten deutlich verurteilte.
Sein direkter Vorgänger wurde bereits 1954 heiliggesprochen, sein Nachfolger Pius XII. steht kurz vor der Seligsprechung, obwohl es erhebliche Kritik an seiner Amtsführung während des II. Weltkrieges gibt. Der Konzilspapst Johannes XXIII. wurde 2014 heiliggesprochen, zeitgleich wurde sein Nachfolger Paul VI. seliggesprochen.
Kirchenhistoriker Unterburger hat durchaus Verständnis für Bedenken angesichts der zahlreichen Selig- und Heiligsprechungen: "Man kann der Praxis, dass Päpste ihre Vorgänger in dieser hohen Zahl heiligsprechen auch in gewisser Weise skeptisch gegenüberstehen, weil das doch eine Form der Selbst-Sakralisierung ist und man auch die Frage stellen kann, wie unbefangen man ist, wenn man selbst dem Vorgängerpapst doch den Aufstieg verdankt hat."
Ähnlich sah das schon 2018 der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück in einem Gespräch mit der "Neuen Zürcher Zeitung". Damals wurde gerade Paul VI. heiliggesprochen – einerseits brachte er das II. Vatikanische Konzil zu Ende, andererseits zog er Kritik mit seinem klaren Verbot von künstlichen Verhütungsmetholden auf sich, auch von deutschen Bischöfen. Tück sieht die Selig- oder Heiligsprechungen der Päpste nicht selten jeweils kirchenpolitisch motiviert.
Heiligsprechungen angesichts der weltweiten Missbrauchskrise noch angemessen?
Ebenfalls im Zuge der Heiligsprechung von Paul VI. 2018 fragte der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf, ob es angemessen sei, dass "die Kirche sich und ihre obersten Repräsentanten feiert, wo sie eigentlich in Sack und Asche gehen müsste?" In Zeiten von Missbrauchsdebatten könne es ein Zeichen sein, solche "Selbstbeweihräucherungen einfach mal auszusetzen", so Wolf damals gegenüber der Verlagsgruppe Bistumspresse in Osnabrück.
Wäre also ein zeitliches Verbot von solchen Selig- oder Heiligsprechungen angemessen? Sollten nur noch "einfache" Bischöfe und Priester sowie Laien verehrt werden? Historiker Unterburger will die Heiligsprechung von Päpsten nicht rechtlich regulieren – denn nicht nur die würden von ihren Nachfolgern verehrt: "Auf der anderen Seite kristallisiert sich im Frömmigkeitsleben vieler Gläubigen auch die Rolle des Papstes. Das hat mit unserer Mediengesellschaft zu tun. Dann stellt sich auch die Frage, wenn es wirklich ein Anliegen der Gläubigen gibt, warum man das grundsätzlich verbieten soll. Ich wäre da auch vorsichtig, das grundsätzlich für unmöglich zu erklären."
Zwei Drittel der Päpste des 20. Jahrhunderts sind oder werden noch selig- oder heiliggesprochen. Es dürfte wohl kaum ein Jahrhundert geben, in dem das so häufig geschah. Generell haben in dieser Zeit die Selig- und Heiligsprechungen zugenommen. Und auch hier ist wieder Johannes Paul II. ein Mann der Rekorde: in seiner Amtszeit kam es zu 1338 Seligsprechungen und 482 Heiligsprechungen – das gab es noch nie!
Mathias Peter