Wie geht man damit um, wenn sich das politische Vorbild von einst als skrupelloser Despot entpuppt? Sympathisanten der sandinistischen Revolution in Nicaragua, die heute auf das mittelamerikanische Land blicken, kommen an dieser Frage nicht vorbei. Die Antworten aus der einschlägigen Szene fallen höchst unterschiedlich aus.
Entstehung einer neuen Gesellschaft
In den 70er und 80er Jahren begeisterte ein gewisser Daniel Ortega linke Internationalisten in aller Welt. "Comandante Daniel" und seine Getreuen stürzten 1979 mit Waffengewalt die verhasste, von den USA geförderte Somoza-Diktatur. Eine neue Gesellschaft sollte entstehen. Auch in Kirchenkreisen war man angetan angesichts der scheinbar hehren Ziele der Bewegung. Mit dem katholischen Priester Ernesto Cardenal (1925-2020) zählte sie gar einen bedeutenden Vertreter der Befreiungstheologie in ihren Reihen.
In Deutschland entstanden zahlreiche Vereine und Initiativen, die den Wandel zu einem humanen Sozialismus in Nicaragua unterstützen wollten. Doch inzwischen ist selbst unter loyalsten Fürsprechern eine gewisse Ernüchterung eingekehrt. Selten wurde ein einstiger Freiheitskämpfer derart von der Wirklichkeit entzaubert wie "El Presidente" Ortega.
Grundlegendes Umdenken
"Wir wussten schon vorher, dass er kein Sohn des Himmels ist", sagt Karl Lichtenberg, stellvertretender Vorsitzender des Städtepartnerschafts-Vereins Köln-Corinto. Aber seit 2018 gehe der Revolutionsführer von früher mit brutal-diktatorischen Mitteln gegen die eigene Bevölkerung vor. Das habe zu einem grundlegenden Umdenken geführt: "Mit den offiziellen Verwaltungsstellen können wir nicht mehr zusammenarbeiten", erläutert Lichtenberg die Haltung seines
Vereins, der seit 1988 Hilfsprojekte an der nicaraguanischen Pazifikküste koordiniert.
Tatsächlich markiert der 18. April vor fünf Jahren den Beginn einer landesweiten Dauerkrise. Seit damals Pläne für Steuererhöhungen und Rentenkürzungen eine Protestwelle auslösten, gibt es die Menschenrechte in Nicaragua nur noch auf dem Papier. Fand der Umbau vom Sandinismus zur Diktatur vorher leidlich verdeckt statt, gibt sich Ortega nun keine Mühe mehr, seinen autokratischen Charakter zu verbergen.
Anhaltende Repression gegen Regierungsgegner
Hunderte Tote, Tausende Verletzte sind die Bilanz der anhaltenden Repression gegen Regierungsgegner. Zehntausende "Nicas" sind ins Ausland geflohen. Die Kirche, Amnesty International, Human Rights Watch und die Vereinten Nationen beklagen willkürliche Festnahmen, Folter, außergerichtliche Hinrichtungen. Obendrein wurde vielen
ausländischen Hilfsorganisationen die rechtliche Grundlage für ihre Arbeit entzogen.
Trotz der Widrigkeiten werde man das Engagement nicht völlig einstellen, kündigt Lichtenberg an. So sei für den Herbst die Wiederaufnahme eines Jugendaustausch-Projekts geplant. "Das ist ein Ritt über den Bodensee", umreißt der 74-Jährige die Unwägbarkeit des Vorhabens. Schließlich könnten die einzelnen Beteiligten keiner Gewissensprüfung unterzogen werden.
Hochzeitsreise im Jahr 1987
Lichtenberg hat seine Nicaragua-Faszination einer Hochzeitsreise im Jahr 1987 zu verdanken. Für ihn sei der Umgang mit der aktuellen Krise weniger schmerzlich, weil er keine ideologischen Überzeugungen über Bord werfen müsse. Einige - mittlerweile ausgetretene - Vereinsgenossen hätten die Revolution der Sandinisten indes als Blaupause für die eigene politische Arbeit gesehen. "Für die ist das hart." Die verbliebenen rund 50 Mitglieder stimmten darin überein, dass eine Unterstützung des Ortega-Regimes nicht mehr zu rechtfertigen sei.
Eine solch klare Distanzierung geht nicht allen Aktivisten der deutschen Nica-Szene über die Lippen. Rudi Kurz, Vorstand des 20 Mitglieder starken Nicaragua-Forums in Heidelberg, wirbt für eine "differenzierte Wahrnehmung". Menschenrechte bedeuteten mehr als nur die Möglichkeit, eine US-genehme Regierung zu wählen. "Wenn es gelingt, das zu transportieren, sind wir schon einen Schritt weiter", sagt der 63-Jährige.
Bischof von Matagalpa
Kritisch beurteilt er etwa das Verhalten des Bischofs von Matagalpa, Rolando Alvarez. Der prominente Widersacher Ortegas wurde kürzlich wegen angeblichen Landesverrats zu mehr als 26 Jahren Gefängnis verurteilt. Kurz verweist darauf, dass Alvarez wie andere Dissidenten die Option gehabt habe, Nicaragua zu verlassen. Der Entschluss des Bischofs, im Land zu bleiben, sei "nicht besonders sinnvoll" gewesen. Damit habe er die politischen Spannungen unnötig verschärft.
Der nicaraguanischen Regierung hält Kurz dagegen zugute, in Sachen soziale Sicherheit Positives erreicht zu haben: Kleinbauern müssten keine Angst mehr haben, ihr Land zu verlieren. Ortega sei zwar auf Machtsicherung aus, aber die Projektarbeit vor Ort funktioniere gut. Weil ein Mitstreiter aus dem Heidelberger Forum seinen Wohnsitz nach Nicaragua verlegt habe, sei der Kontakt enger denn je. Ein Bildungszentrum für Frauen in der Kleinstadt El Viejo werde weiterhin
uneingeschränkt unterstützt. Das einstige Ideal einer offenen Gesellschaft hätten die Sandinisten leider aufgegeben, sagt Kurz mit etwas Wehmut in der Stimme. "Aber das haben wir in Deutschland auch nicht mehr."