Mit einem schwarzen Lederriemen um ihre Arme geschlungen, der Gebetskapsel Tefillin auf dem Kopf und einem weißen Gebetstuch auf den Schultern liest eine junge Frau aus der Tora vor. Eine Frauenstimme ertönt "Wisst ihr, was ich gerade gehört habe?", im Hintergrund poppen Sprechblasen auf: "Eine Frau kann nicht Rabbiner werden."
Das ist ein Reel - ein kurzes Video - von der angehenden Rabbinerin Helene Braun auf ihrem Instagram-Kanal. Der 25-Jährigen folgen mittlerweile mehr als 8.000 Menschen auf der sozialen Plattform. Dort bezeichnet sie sich selbst als queer und feministisch. Für unter anderem mehr Feminismus in ihren Religionen kämpfen auch die 25-jährige katholische Seelsorgerin Lisa Quarch auf Instagram und die 20-jährige Muslima Dunja Hädrich als Landessprecherin Niedersachsen der Linksjugend. Ehrenamtlich - neben Job oder Studium.
Glaube soll individuell frei ausgelebt werden
Das gemeinsame Ziel der drei Aktivistinnen ist mehr Gleichberechtigung in ihren Glaubensgemeinschaften, in denen Männer zumeist die wichtigen Ämter bekleiden. "Dass nicht-cismännliche Personen auch Priesterin werden können, ist natürlich nicht das einzige feministische Ziel. Auch eine Nicht-Diskriminierung von unterschiedlichen Sexualitäten, eine Segnungsfeier für unterschiedliche Lebensabschnitte oder die Anerkennung von Scheidung sind feministische Ziele", so die katholische Seelsorgerin Quarch.
Für die 20-jährige Krankenpflegerin und Muslima Dunja Hädrich geht es vor allem darum, dass jede Person ihren Glauben individuell frei ausleben kann: "zum Beispiel, dass Frauen sich kleiden können, wie sie wollen. Egal, ob es mit oder ohne Kopftuch ist."
Hass im Netz
Regelmäßig sehen sich die drei mit Ablehnung und Hass konfrontiert. Die Katholikin Quarch vor allem auf Instagram: "Es ist voll von Sexismus und Hass generell gegenüber allem, was mit Religion zu tun hat. Oder Christ:innen, die schreiben, dass ich Menschen in die Hölle ziehen würde." Helene Braun sagt, sie lese Hass-Kommentare gegen sie im Netz nicht. Ihr Name sei nach ihrem Auftreten in einem öffentlichen-rechtlichen Online-Format in antisemitischen Telegram-Chats aufgetaucht. Seitdem lebe sie mit Bedrohungen im Netz.
Einschüchtern lassen wollen sie sich trotzdem nicht. "Als ich eine große Welle von Hass bekommen habe, war ich kurz davor, einfach zurückzutreten und aufzugeben. Aber ich habe zum Glück viele Freunde und Freundinnen, die mir gesagt haben, dass ich einen guten Job mache", so die Linksjugend-Sprecherin Dunja Hädrich. Auch Lisa Quarch will nicht aufgeben, da sie unter anderem viel Unterstützung von ihrem Arbeitgeber - der katholischen Kirche - erfahre: "Die katholische Kirche ist meine spirituelle Heimat, in der ich bleiben, arbeiten und leben möchte."
Vor- und Rückschritte für die Gleichberechtigung
Bleiben für Veränderung: Von der Idee haben sich viele Frauen in der katholischen Kirche verabschiedet, beobachtet Birgit Heller - sie ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Wien. "Und wie viele von denen haben sich eigentlich die Zähne an dieser Organisation ausgebissen? Warum sollte sich das jetzt ändern? Ich sehe keinen logischen Grund dafür", argumentiert Heller. Radikale Veränderungen, etwa die Bibel in geschlechtergerechter Sprache, "das wird sich nie durchsetzen."
In der Entwicklung der Weltreligionen hat es laut Heller immer wieder Vor- und Rückschritte gegeben, eine Gleichberechtigung der Geschlechter zu erreichen: "Man kann in der Geschichte der Religionen beobachten, dass gerade die Entstehungsphase viele Möglichkeiten zulässt." Allerdings zeigen Judentum, Christentum und Islam auch große Unterschiede auf: Über "den Islam" könne man schon grundsätzlich nicht sprechen, so sei beispielsweise der arabische vom europäischen Islam zu differenzieren. Im Judentum gibt es keine mit dem Papst vergleichbare, zentrale Autorität - daher sei eine Meinungsvielfalt einfacher möglich.
Religion und Feminismus - Ein Widerspruch?
Lisa Quarch kann das Christentum nur emanzipatorisch denken: "Wenn ich die Bibel lese und mich auf die Tradition beziehe, war es immer eine progressive Kraft." Ganz ähnlich geht es der angehenden Rabbinerin Helene Braun: "Aus meiner feministischen Perspektive hat das Judentum bei mir viel mit Gleichberechtigung zu tun - dass ich Rabbinerin werden kann." Genauso steht für Dunja Hädrich der Islam nicht im Widerspruch zum Feminismus: "Auch im Koran steht ja, dass Frauen und Männer vor Gott gleich sind."
Eine solche Trendwende hält die Professorin Birgit Heller für unrealistisch: Kommt die Kritik überhaupt bei den Autoritäten der Institution Kirche an, sei es "mal ein kurzer Aufreger, und dann prallt es wieder an den ewigen Wänden des Vatikan ab". Und das, obwohl sich laut der Deutschen Bischofskonferenz 2021 etwa 360.000 Menschen in Deutschland für einen Austritt aus der katholischen Kirche entschieden haben - so viele, wie in keinem Jahr zuvor.
"Neue Zellen christlichen Lebens"
Quarchs feministisches Engagement ist dem Eindruck der Religionswissenschaftlerin zufolge heute eher eine Ausnahme: "Ich habe selbst einmal Theologie studiert Anfang der 80er Jahre. Und damals war feministische Theologie richtig am boomen. Jetzt gibt es sie irgendwie, manche haben ein Interesse daran, aber der Großteil der Studierenden eigentlich eher nicht."
Und dennoch sieht Heller eine Chance in feministischen Reform-Bewegungen: "Vielleicht entstehen neue Zellen christlichen Lebens, die sich immer stärker von der kirchlichen Hierarchie distanzieren."
Religion herausfordern
Für Dunja Hädrich sei es das Vertrauen, die Liebe zum Islam, die sie nicht aufgeben lassen. Helene Braun reizt an ihrem zukünftigen Beruf als Rabbinerin "Dinge herauszufordern oder Schritte zu gehen in der jüdischen Gemeinde, wofür andere überhaupt keine Kraft haben."
Religion herausfordern, Kritik ernst nehmen, zusammenhalten, das liegt auch der Katholikin Lisa Quarch am Herzen. "Gott schuf am achten Tag den Feminismus, wir sind die Sisters von Jesus Christus", zitiert sie auf Instagram einen Songtext der Komikerin Carolin Kebekus.