Die eigenmächtige Schließung der Balkanroute durch EU-Staaten ohne Berücksichtigung deutscher Vorbehalte und ohne Einbindung Griechenlands halte er für einen "Akt mangelnder europäischer Solidarität", sagte Schönborn im ORF. Österreich müsse sich diesen Vorwurf ebenso gefallen lassen wie einige seiner Nachbarstaaten und Länder auf dem Balkan.
Gespür für Menschlichkeit
Merkel agiere mit einem "tiefen Gespür für Menschlichkeit" und sage am deutlichsten, dass Europa die derzeitige Krise gemeinsam schultern müsse, betonte der Kardinal. Eine solche Haltung stünde auch Politikern anderer Länder gut an. Schönborn äußerte sich erfreut, dass die deutschen Bischöfe die Kanzlerin, eine "mutige, kluge Frau", trotz innenpolitischen Gegenwinds unterstützten.
"Humanitäre Korridore" für Flüchtlinge in Österreich wieder aufgreifen
Der Wiener Kardinal plädierte dafür, die Idee "humanitärer Korridore" für Flüchtlinge in Österreich wieder verstärkt aufzugreifen. Sie sollten so die Chance haben, jenseits von "Fluchtdramen" und in Sicherheit ins Land zu kommen. Ein "geordnetes Resettlement", also die dauerhafte Neuansiedlung von Flüchtlingen in einem Drittland, würde nach seinen Worten auch dem grassierenden Schlepperwesen entgegenwirken.
Er selbst habe im persönlichen Kontakt mit Flüchtlingen immer wieder seinen Horizont erweitert, sagte Schönborn. Es ändere die Perspektive, wenn man konkrete Fluchtgeschichten von Menschen höre. Wer die trostlose Situation in syrischen Flüchtlingslagern mitbekomme, die zuletzt immer weniger internationale Unterstützung erführen, der könne nachvollziehen, dass Betroffene "nichts wie weg" wollten, so der Kardinal.
Gewissens- und Religionsfreiheit einfordern
Im Verhältnis zum Islam sind Gewissens- und Religionsfreiheit als "Schlüsselbegriffe der Menschenrechte" unaufgebbar. Das betonte der Wiener Kardinal Christoph Schönborn weiter. Gewissens- und Religionsfreiheit müssten hier und in islamischen Ländern eingefordert werden. Muslime, die nach Europa kommen, müssten diese Werte kennenlernen und auch akzeptieren.
Anders als dem Christentum und dem Judentum fehle im Islam eine Aufklärung, die in Europa mühsam Stück für Stück errungen werden musste, erläuterte Schönborn. In islamischen Ländern bestehe "Religionsfreiheit bestenfalls auf dem Papier". "Eindeutigen Nachholbedarf" machte der Wiener Kardinal beim Frauenbild vieler Muslime aus.
Schönborn bestätigte, dass es immer mehr Muslime gebe, die zum Christentum übertreten wollten. Dafür gebe es klare kirchenrechtliche Regeln. "Wir prüfen sehr genau, ob es eine ehrliche Konversion ist." Alle erwachsenen Taufbewerber müssten ein mindestens einjähriges Katechumenat absolvieren, bevor die Taufe gespendet wird. Erst dann werde der Religionsübertritt vom Asylgerichtshof gegebenenfalls als nachgereichter Asylgrund anerkannt.