"Singen von Gottes Wegen", eines der Mottolieder des "Pueri Cantores"-Chorverbandes und auf der persönlichen Hitliste des Kölner Domchores ganz oben, klingt noch eher verhalten in dem gewaltigen Kirchenraum. Nur sehr zaghaft sind die einzelnen Stimmen aus dem weitläufigen Langhaus, aber auch aus den sonnenbeleuchteten Querschiffen des Kölner Domes zu vernehmen. Denn dort sitzen – unter Berücksichtigung des vorgegebenen Sicherheitsabstandes – rund 100 Familien mit ihren Chorknaben, den Mitgliedern des Domchores im Alter von neun bis etwa 20 Jahren. Auch zahlreiche Herrenstimmen sind vertreten, die im Vergleich zu den Jüngsten eher souverän auftreten und das tragende Gerüst zu den für diesen Anlass sorgfältig ausgewählten Motetten bilden.
Immerhin ein Anfang
Doch die besondere Akustik des Domes macht es auch ihnen schwer, auf die zarten Sopran- und Altstimmen der kleinen, eher schüchtern wirkenden Chorkollegen zu achten und mit ihnen gemeinsam die von Chorleiter Eberhard Metternich in der Vierung dirigierten Werke so zu präsentieren, wie man es von dem 150 Mann starken Ensemble sonst während der Liturgie gewohnt ist.
Doch es ist schon mal ein Anfang. Nach langen Monaten des Lockdowns, vielen ausgefallenen Proben, Messen, Konzerten und auch Konzertreisen – im August hätte der Domchor nach Portugal reisen sollen und der Mädchenchor am Kölner Dom nach Italien – will der Domkapellmeister für seine Sänger – zumindest für einen Moment – wieder so etwas wie Normalität herstellen. Dafür hat er mit Dommusik-Kollege Oliver Sperling die Idee zu einem außergewöhnlichen Gottesdienst entwickelt, den Domdechant Msgr. Robert Kleine an diesem Sonntag leitet und der wie ein Startschuss für das neue Schul- und Chorjahr sein soll. Während Sperling am vergangenen Sonntag diesen geistlichen Auftakt mit den Mädchen exklusiv im Dom gefeiert hat, ist es an diesem nun Eberhard Metternich. Vor allem aber bringen die beiden Chorleiter damit ihr Herzensanliegen zum Ausdruck, ihr jeweiliges Ensemble nach der coronabedingten Zwangspause und den allmählich seit Mai in ganz kleinen Einheiten wieder begonnenen Proben nun noch einmal als große Singgemeinschaft an dem Ort zusammenzubringen, aus dem sie ihre Bestimmung und ihr Selbstverständnis ableiten: nämlich im Kölner Dom.
Hoffnung auf Lockerungen in der neuen NRW-Schutzverordnung
Sichtlich bewegt begrüßt Metternich daher auch die vielen Familien, die seiner Einladung an diesem Nachmittag gefolgt sind und sich gemeinsam mit dem Dommusik-Chef nichts sehnlicher wünschen, als dass so bald wie möglich der Chorbetrieb wieder vollständig aufgenommen werden kann und alle Kinder und Jugendliche wieder das machen dürfen, was sie am liebsten tun: nämlich singen. Und das aus einer tiefen Freude heraus. "Nun bin ich nach 30 Dienstjahren als Domkapellmeister vor einem Gottesdienst im Kölner Dom doch wirklich noch einmal aufgeregt", bekennt Metternich mit zitternder Stimme. "Ich kann es kaum glauben, dass ich Euch nach diesen langen Monaten nun alle hier wiedersehe", freut er sich. Dann erklärt er, dass das Team der Dommusik dabei sei, Perspektiven für gemeinschaftliches Singen zu erarbeiten und auch das Treffen mit Ministerpräsident Armin Laschet vor gut einer Woche dazu gedient habe, das Anliegen aller NRW-Domkapellmeister vorzutragen, demnächst hoffentlich wieder in größeren mehrstimmigen Gruppen proben zu dürfen und das in den Erlassen der vermutlich Anfang September neu erscheinenden Coronaschutzverordnung der Landesregierung auch berücksichtigt zu finden.
"Als Chor brauchen wir dringend eine Perspektive. Und wir brauchen das Gemeinschaftserlebnis, denn wir müssen spüren, dass wir noch eine große Chorgemeinschaft sind – natürlich bei möglichst geringem Ansteckungsrisiko", betont Metternich in seiner Begrüßung. "Aber beim gemeinschaftlichen Singen sind aufeinander hören und Blickkontakt nun mal ganz wesentliche Elemente. Und Mehrstimmigkeit geht im Knabenchor nur, wenn in Gruppen zu 20 oder 30 die jüngsten mit den erfahrenen Sängern zusammen singen."
Dann dankt der Chorleiter allen Kindern und Jugendlichen, dass sie auch unter den erschwerten Probenbedingungen bisher so lange durchgehalten haben. "Mit Kraft und Geduld werden wir diese Krise gemeinsam durchstehen", ermutigt er seine Sänger und wünscht allen, "dass wir diese Durststrecke zusammen überwinden". Dabei solle jede sich bietende Möglichkeit genutzt werden, den Chorgesang in größeren Einheiten voranzubringen.
"Man kann den Schlüssel umlegen und Türen öffnen"
Moralische Unterstützung bekommen die Verantwortlichen der Dommusik dabei seit Wochen von Domdechant Robert Kleine, der ehemals Schulseelsorger in der Kölner Domsingschule war und ebenfalls aufmunternde Worte für seine jungen Zuhörer findet. In seiner Predigt benennt er einfühlsam, dass am Dom gerade die Chöre unter den Beschränkungen des Lockdowns besonders gelitten hätten, weil ihnen das Zusammentreffen und Musizieren in Gemeinschaft, Gruppenaktivitäten und Chorwochenenden sowie die Liturgiegestaltung und Vorbereitung auf Konzerte gefehlt hätten. Zum Glück werde der Schlüssel des Lockdowns aber nun langsam umgelegt – wenn auch vorsichtig und noch nicht überall und auch nicht direkt. Selbst Gemeindegesang gebe es bisher noch eher zaghaft. Von einer Rückkehr zum Gewohnten, zum unbeschwerten und sorgenfreien Miteinander könne daher noch nicht die Rede sein. Trotzdem bestehe die Hoffnung, dass unter Berücksichtigung der geltenden Regeln die wieder aufgenommene Arbeit der Chöre kontinuierlich weitergehen könne.
Stadtdechant Kleine: "Ihr seid Schlüsselfiguren"
Mit einem Schlüsselbund in der Hand geht Kleine dem Gedanken nach, dass es für viele Türen des entsprechenden Schlüssels bedürfe, sich dann aber Verschlossenes öffnen lasse. Anschaulich erläutert er mit diesem Bild, dass es manchmal nur darauf ankomme, einen Schlüssel umzudrehen, um ans gewünschte Ziel zu gelangen. Das gelte genauso fürs Singen wie auch für den Glauben. Die Zeit der Pandemie habe noch einmal deutlich gemacht, dass es bei einem Leben in Gemeinschaft auf Solidarität ankomme. "Das Christentum ist keine Religion für Einzelkämpfer. Und Jesus Christus selbst lässt uns nicht vor verschlossener Tür stehen", so der Domseelsorger in seinem geistlichen Wort. Vielmehr komme es darauf an, sich in der Kirche als große Familie zu verstehen und für den anderen da zu sei, einander die Hand zu reichen, ihn im Blick zu haben. "Wir alle sind aufgerufen, den Schlüssel ins Schloss zu stecken und Türen zu öffnen. Denn niemand soll vor verschlossener Tür bleiben. Wer den passenden Schlüssel besitzt, entscheidet, wer wann und wo hereinkommen kann oder wem die Tür verschlossen bleibt." Im Glauben habe jeder diese Art von Schlüsselgewalt. "Ihr alle seid Schlüsselfiguren", rief er im Dom den Chorsängern entgegen. "Vergesst nie: Den Schlüssel füreinander und für Gott habt Ihr selber in der Hand."
Parallele zu heute in der Geschichte des Kölner Domchores
Schon einmal in seiner über 150-jährigen Geschichte habe der Kölner Domchor vor einer ungewissen Zeit gestanden, erinnert Metternich an den Bombenangriff 1943 auf Köln, dem der damalige Domkapellmeister Johannes Mölders zum Opfer gefallen war, und stellt, bevor er für alle ein Gebet formuliert, Parallelen zu der aktuellen Unsicherheit her. Trotzdem habe man beherzt den Fortbestand des Chores betrieben, in dessen großer Tradition er sich selbst heute sehe, so der Dommusiker. "Auch jetzt werden wir unser Engagement wiederbeleben und im Vertrauen auf Gott unser Ziel nicht aus dem Blick verlieren. Erst viele unterschiedliche Stimmen verschmelzen zu diesem Klang, der uns ausmacht und der – wenn er fehlt – das ganze Ausmaß des Verlustes deutlich macht."
Und dann stimmt der Domkapellmeister zum Schluss noch einmal den Gesang an, der in dieser großartigen Sakralarchitektur allen äußeren Umständen zum Trotz wie eine Durchhalteparole klingt. Und dabei jedem Domchorsänger mitten durchs Herz geht, weil er so etwas wie die Erkennungsmelodie der Kölner Domchöre ist, mit der sich die Sänger am Ende dieses sehr berührenden Gottesdienstes ihrer selbst und ihrer Botschaft vergewissern: "Tria sunt munera – drei Gaben sind es, die die Magier dem Herrn brachten…"