KNA: Frau Shen, wir haben gerade den dritten Sommer in Folge mit Dürre und Hitze erlebt. Ist Deutschland auf den Klimawandel ausreichend vorbereitet?
Shen Xiaomeng (Vizerektorin der Universität der Vereinten Nationen in Europa und Direktorin des UNU Institutes für Umwelt und menschliche Sicherheit): Dazu fällt mir folgende Geschichte ein: Vor zwei Jahren bin ich im Sommer mit dem Zug von Köln nach Bonn gefahren. Auf freier Strecke kam die Bahn in praller Sonne zum Stehen. Die Abteile waren überfüllt, die Klimaanlage funktionierte nicht, weder Fenster noch Türen ließen sich öffnen.
KNA: Der ganz normale Bahnwahnsinn...
Shen: Genau das ist der Punkt. Die Episode zeigt, dass wir auf die steigenden Temperaturen noch nicht ausreichend vorbereitet sind. Das ist ja eine Folge des Klimawandels. Wir müssen solche Faktoren besser berücksichtigen, nicht nur im Verkehrswesen. Bei der Stadtplanung beispielsweise sollten wir künftig deutlich mehr Platz für Grünflächen und Bäume vorhalten, um die Hitze in Ballungsräumen abzumildern.
KNA: Klingt nach einer Menge Hausaufgaben. Wo sehen Sie positive Entwicklungen?
Shen: Zum Beispiel beim Hochwasserschutz. Da ist in den vergangenen Jahre einiges passiert, etwa durch den Bau von Rückhaltebecken.
KNA: Wie sieht die Lage in Ihrer Heimat China aus - gibt es dort so etwas wie klimaangepasstes Bauen?
Shen: Das Bewusstsein ist da, doch der Bevölkerungsdruck ist groß. Initiativen zu einem Wandel kommen von den Bürgern. Ich war überrascht, in der Altstadt von Peking urban-gardening-Projekte zu sehen. Da tun sich Nachbarn zusammen, um gemeinsam Zucchinis, Gurken oder Kürbisse anzubauen.
KNA: Bräuchte es aber nicht über solche Graswurzelinitiativen hinaus einen grundlegenden Kurswechsel, um Herausforderungen wie den Klimawandel zu meistern?
Shen: Ich glaube, wir brauchen eine neue Sprache, um das Bewusstsein der Menschen zu ändern.
KNA: Wie meinen Sie das?
Shen: Alle Regierungen konzentrieren sich auf Wirtschaftswachstum und Kennziffern wie das Bruttoinlandsprodukt. Dieses Konzept trägt nicht mehr. Schon 1972 sprach der Club of Rome von den Grenzen des Wachstums. Und Studien zeigen uns, dass das Wachstum zwar seit 1950 steigt, die Zufriedenheit der Menschen aber nur bis etwa 1975 mit diesem Wachstum Schritt hält. Seither gehen die beiden Kurven auseinander. Das sollte uns zu denken geben.
KNA: Aber was ließe sich an die Stelle des Wachstumsglaubens setzen?
Shen: Weniger Konsum, mehr Umweltschutz, ein schonender Umgang mit Ressourcen, mehr Wertschätzung von öffentlichen Gütern wie Wald, Luft oder Wasser. Hier können multilaterale Organisationen wie die UN als Mittler eine sehr wichtige Rolle spielen. Die Corona-Krise zeigt: Die Staatengemeinschaft kommt nur weiter, wenn sie kooperiert anstatt miteinander zu konkurrieren.
KNA: Die Industrie- und Schwellenländer haben leicht reden, wenn sie ein Ende des Wachstums fordern. Was sagen Sie den Menschen in den ärmeren Staaten, die nach dem gleichen Wohlstand wie etwa die Europäer streben?
Shen: Alle Nationen haben das Recht, ihren eigenen Weg zu finden. Wenn sie ihr Glück über das Wirtschaftswachstum definieren, ist das zunächst einmal zu akzeptieren. Aber sie müssen ja nicht die Fehler wiederholen, die Europa und Nordamerika bei ihrem Wachstum gemacht haben.
KNA: Der brasilianische Präsident lässt den Regenwald abfackeln und sein US-amerikanischer Kollege erklärt den Austritt seines Landes aus dem Pariser Klima-Abkommen. Schlechte Zeiten für die Vereinten Nationen?
Shen: Politische und wirtschaftliche Krisen hat es immer schon gegeben. Natürlich haben wir Sorge um den Erhalt des Regenwalds. Natürlich kann man den Rückzug der USA aus dem Klima-Abkommen bedauern. Wir sehen aber auch gleichzeitig, dass viele Regierungen multilateral agieren wollen und ein gemeinsames Handeln für Nachhaltigkeit aktiv vorantreiben. In der Wirtschaft gibt es den Begriff der Opportunitätskosten. Auf die UN gewendet heißt das: Wer hier am falschen Ende spart, hat am Ende deutlich mehr Kosten. Denn Phänomene wie der Klimawandel machen nun einmal vor nationalen Grenzen nicht Halt.
KNA: Sie haben unter anderem für die Initiative Euraxess Worldwide der Europäischen Kommission gearbeitet, die sich für die Mobilität junger Wissenschaftler einsetzt. Kritiker monieren, dass die Bürokratie Deutschland als Wissenschaftsstandort eher mäßig attraktiv macht. Wie sehen Sie das?
Shen: Deutschland investiert drei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung, und damit deutlich mehr als Frankreich, die USA oder China. Dazu kommen Forschungseinrichtungen von Weltrang wie die Max-Planck-Institute, die Leibniz- oder Helmholtz-Gemeinschaft oder die Fraunhofer-Gesellschaft. Das relativiert die Herausforderungen der Bürokratie zum Teil.
KNA: Seit Anfang August leiten Sie das Institut für Umwelt und menschliche Sicherheit der Universität der Vereinten Nationen. Was genau wird da eigentlich gemacht?
Shen: Wir erforschen Ursachen und Folgen von Umweltmigration. Wir fragen, wie sich Menschen gegen Dürren und Hochwasser wappnen können. Und wir untersuchen, welche Länder und Regionen besonders von extremen Wetterereignissen betroffen sind. Ich wünsche mir, dass das Institut noch sichtbarer wird - über das UN-Netzwerk hinaus.
KNA: Warum ist Ihnen das wichtig?
Shen: Forschung hilft, tragfähige Lösungen für konkrete Probleme zu finden.