DOMRADIO.DE: Unter anderem wurde im Projekt "Sankt Maria als" vorgeschlagen, Sankt Maria als Ort für ein Picknick, als Silent Disco oder als Trampolinhalle zu nutzen. Was war denn Ihr persönlicher Favorit innerhalb dieser Vorschläge?
Monsignore Dr. Christian Hermes (Stadtdekan von Stuttgart): Ja, es gab tatsächlich viele sehr bunte Ideen, die auf den Aufruf hin dann eingegangen sind. Ich habe eigentlich von vornherein gesagt: Für mich gibt's nicht den Favoriten, sondern was sich immer mehr herauskristallisiert hat, ist das der Prozess als solcher für uns unglaublich wertvoll war. Die Kirche liegt in einer eigentlich etwas von den Wohngebieten abgetrennten Lage und nun haben sich wieder ganz viele Menschen plötzlich für diese Kirche interessiert.
Gruppen aus der Zivilgesellschaft, Bürgerinitiativen, der Caritas-Verband, die Universität Stuttgart, die Gruppe, die die Internationale Bauausstellung vorbereitet – viele Leute hatten Interesse an dieser Kirche und waren sehr dankbar, dass die Kirche auch Interesse an der Gesellschaft hat. Deshalb hatten wir in den letzten Jahren einen wirklich ganz wunderbaren kreativen Prozesses, in dem viele Ideen eingebracht wurden. Zum Beispiel ging es dabei auch um Fragen wie: Was ist denn ein heiliger Raum? Was ist uns als Gesellschaft heilig? Und da wurde diese Kirche jetzt zu einem sehr lebendigen Ort. Es haben viele Jahre nicht so viele Menschen diese Kirche besucht, wie in den letzten Jahren.
DOMRADIO.DE: Viele verschiedenste Gruppen und Institutionen haben also die Möglichkeit genutzt, in dieser Erprobungsphase Veranstaltungen zu organisieren. Insgesamt 64 waren es an der Zahl. Was war denn da so dabei? Was waren das für Veranstaltungen?
Hermes: Man kann vielleicht eines herausheben, was ich auch sehr berührend fand, was natürlich bei manchen Konservativen auch zu Stirnrunzeln geführt hat. Es gibt zum Beispiel die "Barbers Angels". Das ist eine Gruppe von Friseuren, die so ein bisschen als Rocker daherkommen, aber ein ganz klar karitatives Ziel haben, nämlich dass sie bedürftigen Menschen kostenlos die Haare schneiden. Wir erinnern uns, Papst Franziskus hat am Petersplatz auch schon so ähnliche Aktionen veranstaltet. Sie haben das jetzt eben in Sankt Maria gemacht. Das passiert nicht im Altarraum, das passiert auch ganz klar abgegrenzt von den heiligen Orten. Und plötzlich entstand da, ohne es vonseiten der Gemeinde einzubringen, das Bedürfnis zu beten.
Da haben wir wirklich eine ganz wunderbare Verbindung von dem, was eigentlich unser karitativer Auftrag ist. Es kommen Menschen, die gar nichts mit der Kirche zu tun haben und die ganz im Sinn unseres christlichen Gebots der Nächstenliebe etwas für arme Menschen tun. Oder wir haben Kleidertauschbörsen. Es wird hier nichts verkauft, sondern verschenkt. So ähnlich, wie es manchmal auch in Kleiderkammern geschieht. Und plötzlich kommen dann Menschen, die sagen, das sie etwas tun möchten für Arme und Bedürftige in dieser Stadt – und die es sehr begrüßen, wenn wir diesen Kirchenraum dafür anbieten. Wir wollen dann nicht diese Menschen vereinnahmen und sie als eine Institution in dieser Gemeinde unter das Label der Kirche stellen. Wir freuen uns aber, wenn Menschen das, was uns als Christen wichtig ist, in dieser Stadtgesellschaft sichtbar und erfahrbar machen wollen.
DOMRADIO.DE: Gab es denn auch eine Grenze, die sie gezogen haben? Gab es etwas, wo Sie gesagt haben: Nein, das kann in einer Kirche nicht funktionieren?
Hermes: Es gab in dieser Erprobungsphase auch ein paar Ideen, wo wir dann schon gesagt haben: Da müssen wir eine Grenze ziehen, weil zum Beispiel eine Weltanschauung dahintersteckt, die mit unserem christlichen Evangelium nicht vereinbar ist. Das ist eigentlich auch so der Grundsatz, den wir verfolgen: Sehr offen zu denken – auch im Sinne von Papst Franziskus an die Ränder zu gehen – einladend zu sein und auch davon auszugehen, dass Gottes Geist in dieser Stadt wirkt. Und zwar nicht nur innerhalb der Grenzen unserer Gemeinden.
Was aber das Kriterium für uns ist und auch in Zukunft sein wird: Es muss vereinbar sein mit unseren christlichen Grundüberzeugungen. Es muss dem Geist des Evangeliums entsprechen und darf dem nicht widersprechen. Das ist so das Ausschlusskriterium. Aber innerhalb dieser Grenzen, da soll es eine große und kreative Freiheit geben. Diese Kirche ist eine sehr prominente, schöne aber auch eine sehr aufwendige Kirche. Und wir wollen und müssen diese Kirche beleben, damit wir die hohen Aufwendungen, die wir damit haben, vor den anderen Gemeinden verantworten können.
DOMRADIO.DE: Wie soll es denn nun weitergehen? Wie soll das "Beleben" in der mittel- und langfristigen Zeit aussehen?
Hermes: Wir haben eine Arbeitsgruppe, die das Konzept erarbeitet hat. Daran sind auch namhafte deutsche Pastoraltheologen beteiligt, auch die Diözese, das Stadtdekanat und die Kirchengemeinde – das ist so die Kooperation. Wir haben jetzt das Label im Grunde so geprägt: Sankt Maria als Kirche des Dialogs und der Vernetzung mit der Stadtgesellschaft, über die Grenzen der Kirchengemeinde hinaus. Dieses Konzept ist sehr gründlich ausgearbeitet worden und geht in die Gremien zur weiteren Abstimmung, auch zur Abstimmung mit unserem Bischof und mit der Diözese. Dann wünsche ich mir natürlich auch zusammen mit der Arbeitsgruppe, dass wir erfolgreich sind und die anderen Gemeinden das Konzept für so gut halten, dass sie sagen: Ja, wir sind bereit, da auch Ressourcen zu investieren und freuen uns über dieses wunderbare Konzept.
DOMRADIO.DE: Von Offenheit, Innovation und Vielfalt sprechen die einen, von einer "Räuberhöhle" die anderen. Das österreichische Internetportal kath.net schreibt: "Seit zwei Jahren wird in Stuttgart unter Duldung des Dekans und des Bischofs eine katholische Kirche auf das Schlimmste profaniert". Was sagen Sie solchen Kritikern?
Hermes: Ja, da gibt es gezielte Kampagnen – auch diffamierende, ganz bewusst auch falsche Nachrichten in die Welt setzende Kampagnen, Denunziations- und Briefaktionen an alle hierarchischen Stellen. Da sind wir relativ gelassen, das wird orchestriert und instrumentiert von Menschen, die mit der Gemeinde und auch mit dem pastoralen Entwicklungsprozess in Stuttgart nichts zu tun haben. Natürlich möchte ich auch die Kritik von konservativen Katholiken ernst nehmen, wenn sie sachlich gut begründet vorgetragen wird. Aber dass jetzt solche Diffamierungskampagnen gefahren werden, davon dürfen wir uns nicht beeindrucken lassen. Das entspricht auch nicht dem Geist, in dem wir über die Entwicklung der Kirche nachdenken sollten.
Das Interview führte von Moritz Dege.