DOMRADIO.DE: Sie sind am Mittwochabend spontan zur Synagoge in ihrer Heimatstadt Stuttgart gegangen. Was haben Sie da erlebt?
Michael Blume (Religionswissenschaftler und Referatsleiter für nichtchristliche Religionen im Staatsministerium Baden-Württemberg sowie Beauftragter der Landesregierung gegen Antisemitismus): Ich habe gemeinsam mit dem Sozialminister am Jom-Kippur-Gottesdienst teilgenommen. Es war uns einfach ganz wichtig, Präsenz zu zeigen, weil einige jüdische Gemeinden tatsächlich überlegt hatten, ob die Gottesdienste stattfinden können. Hier in Baden-Württemberg hat die Polizei super reagiert. Wir haben Verbindungsbeamte für alle Synagogen und es war sofort Polizeischutz da. Aber wir wollten eben auch einfach zeigen: Wir sind nicht nur vor der Synagoge. Wir sind auch in der Synagoge. Und es war auch so, dass viele der Jüdinnen und Juden hier an dem Tag gar keine Smartphones benutzt haben. Teilweise sprach sich die schreckliche Tat von Halle also erst langsam herum und da war es wichtig, die Menschen einfach zu beruhigen und Präsenz zu zeigen.
DOMRADIO.DE: Ist dieser massive Antisemitismus immer schon da gewesen und wir haben es nicht bemerkt?
Blume: Der Antisemitismus war nie verschwunden. Es gab ihn rechts, es gab ihn links und es gab ihn in religiösen Milieus, christlich und muslimisch. Das war nie ganz weg. Die gute Nachricht ist: Die Zahl der Antisemiten ist nicht gestiegen. Aber heutzutage radikalsieren sich die Leute über das Internet. Wer der Auffassung ist, es gebe eine jüdische Weltverschwörung, der kann sich heute den ganzen Tag mit entsprechenden "fake news" zuballern. Er kann sich in Gruppen bewegen, in denen man sich anstachelt. Das war immer so in der Geschichte: Immer wenn neue Medien aufgetreten sind, war das so. Der Buchdruck im 15. und 16. Jahrhundert, die elektronischen Medien Radio und Film im 20. Jahrhundert. Da gab es jedes Mal einen Ausbruch von Verschwörungsglauben, Hexenwahn und Antisemitismus. Und das haben wir jetzt wieder weltweit. USA, Neuseeland, Norwegen. Es ist immer wieder das gleiche Muster. Und ich fürchte, wir müssen uns darauf einstellen, dass wir da in den nächsten Jahren noch einen Kampf vor uns haben.
DOMRADIO.DE: Es gibt jetzt auch schon wieder Stimmen, die anzweifeln, ob die Tat von Halle überhaupt ein antisemitischer Übergriff gewesen sei, weil keine Juden dabei ums Leben gekommen sind.
Blume: Wir erleben immer wieder Trolle von Rechts und von Links, die sagen, beim Antisemitismus gehe es nur um Juden. Aber die Antisemiten glauben, dass eine Weltverschwörung aus Juden und Nichtjuden alles kontrolliert. Die sagen dann auch, die Flüchtlinge werden von den Juden geholt, das sei eine Invasion. Und dann haben sie in den USA plötzlich Leute, die schießen auf Hispanics oder in Neuseeland auf Muslime. Das heißt, der antisemitische Hass richtet sich immer auch gegen Jüdinnen und Juden, aber niemals nur. In der deutschen Geschichte wurden die Roma und Sinti von den Nazis vernichtet. Das waren überwiegend Christen. Ich finde es zynisch, wenn die Leute sagen, es seien ja keine Juden gestorben, deswegen habe das nichts mit Antisemitismus zu tun. Dieser Mensch in Halle hat ja versucht, zuerst in die Synagoge zu kommen, dort wollte er ein Massaker anrichten. Jeder sollte begriffen haben: Wer sich nicht an die Seite der jüdischen Gemeinden stellt, wer nicht gegen den Antisemitismus ankämpft, der lässt letztlich den Raum dafür, dass wir alle, dass unsere gesamte Gesellschaft angegriffen wird. Der klare Appell lautet, jetzt wirklich zu verstehen, dass wir nicht nur der Jüdinnen und Juden zuliebe gegen den Antisemitismus kämpfen, sondern für uns alle. Antisemitismus wird nie satt. Der geht sogar weiter, wenn es gar keine jüdischen Menschen mehr in dem jeweiligen Land gibt. Das habe ich im Irak erlebt.
DOMRADIO.DE: Wie kann man denn im Alltag gegen den Antisemitismus vorgehen?
Blume: Der Landtag von Baden-Württemberg wird nächste Woche den Antisemitismusbericht mit Handlungsempfehlungen diskutieren. Den kann sich auch jeder herunterladen. Darin stehen insgesamt 78 Handlungsempfehlungen, quer durch alle Politikbereiche. Da steht Sicherheit drin. Da stehen Integration, Bildung, Gedenkpädagogik, Austausch mit Israel drin. Es gibt Leute, die sagen, man könne doch nichts tun, außer Polizisten vor jede Synagoge zu stellen. Aber so einfach dürfen wir es uns nicht machen. Wir haben alle nicht erwartet, dass der Antisemitismus wieder so stark wird. Aber es gibt es keine Entschuldigung mehr, jetzt nicht aufzustehen. Diejenigen, die gewarnt hatten, die hatten recht. Jetzt müssen wir in allen Politikbereichen endlich entschlossen tätig werden, übrigens auch gegen Radikalisierung im Internet. Das darf so nicht weitergehen.
DOMRADIO.DE: Erfurts Bischof Neymeyer ist in der Bischofskonferenz für den Dialog mit den Juden zuständig. Der sieht auch die Wähler in der Verantwortung. Jeder Wähler und jede Wählerin soll sich ganz genau überlegen, bei welcher Partei man sein Kreuz macht und vor allem welche Folgen das haben wird.
Blume: Ich glaube, dass Demokratie tatsächlich zeigt, wie Menschen sind. Und da erlebt man ganz unterschiedliche Dinge. Nicht zuletzt deswegen ist ja Demokratie eigentlich auch immer abgefedert durch Rechtsstaatlichkeit. Damit eben nicht neun Wölfe über das Schicksal von einem Schaf abstimmen dürfen, sondern das die Rechte von Minderheiten und von jedem Einzelnen gesichert ist. Die Menschenwürde des Einzelnen muss die Grundlage bilden. Mehrheitsentscheidungen alleine sind keine Garantie dafür, dass das geschieht.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir haben hier in Baden-Württemberg einen Abgeordneten, der die Echtheit der Protokolle der Weisen von Zion verkündet hat. Und jetzt gab es eine Abstimmung in der AfD-Fraktion, ob er wieder in die Fraktion aufgenommen werden soll. Es gab elf Stimmen dagegen, aber neun Stimmen dafür.
Ich kann einfach nur alle Wählerinnen und Wähler bitten, sich Gedanken zu machen und gegebenenfalls auch Abgeordnete anzusprechen. Denn zu sagen, man habe von nichts gewusst, das funktioniert einfach überhaupt nicht mehr. Weder für die Gewählten noch für die Wähler.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.