FAZ-Redakteur sieht Köln als Ventil für angestauten Aufklärungsdruck

Woher kommt die Empörung gegen Woelki?

Die Wut auf den Kölner Erzbischof Kardinal Woelki ist enorm. Aber übersteigt sie nicht längst das vernünftige Maß, das auch die Faktenlage hergibt? Das fragt der FAZ-Redakteur Christian Geyer.

Kardinal Rainer Maria Woelki (Archiv) / © Julia Steinbrecht (KNA)
Kardinal Rainer Maria Woelki (Archiv) / © Julia Steinbrecht ( KNA )

DOMRADIO.DE: Sie vergleichen ganz konkret das Aufklärungsverhalten der Bistümer Köln und Berlin. Und da kommen Sie zu einem erstaunlichen Ergebnis. Wie sieht das aus?

Christian Geyer (FAZ-Redakteur): Ach, ich habe mich einfach nur gewundert, warum es zum Beispiel in Berlin nicht eine ähnlich vehemente Kritik am Aufklärungsgebaren des Erzbistums gibt wie in Köln, mit Austrittswellen und so weiter. Vor knapp vier Wochen wurde in Berlin das Gutachten zur Aufbereitung sexuellen Missbrauchs vorgestellt, solche Gutachten sind ja inzwischen von verschiedenen Bistümern in Auftrag gegeben worden.

Na ja, und in Berlin hat eine Rechtsanwaltskanzlei dann ein über sechshundert Seiten dickes Werk veröffentlicht, bei dem aber sage und schreibe mehr als vierhundert Seiten personenbezogener Schilderungen unveröffentlicht blieben. Also da ist der gesamte Teil C vom Erzbischof Koch unter Verschluss gehalten worden, wenn Sie so wollen, der Teil, der unter der Überschrift steht beziehungsweise jetzt eben nicht steht: "Zusammenfassender Inhalt der Personalakten beschuldigter Kleriker im (Erz‑)Bistum seit 1946 in zeitlicher Reihenfolge der Zeiträume der Beschuldigungen”.

Dieser Teil bleibt für die Öffentlichkeit unsichtbar, und zwar, wie es heißt, "aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes, der Gefahr der Retraumatisierung der Betroffenen und um eine voyeuristische Darstellung zu vermeiden”. Und die Öffentlichkeit, die innerkirchliche wie die säkulare, hat das, wenn ich recht sehe, im Großen und Ganzen anstandslos geschluckt. Da gab es keinen Aufschrei, da fügte man sich der juristischen Logik, von der man in Köln nichts wissen möchte. Anders gesagt: Man lässt dem Erzbischof von Berlin das durchgehen, was man dem Erzbischof von Köln vorhält. Das ist doch nicht selbstverständlich, das wirft doch Fragen auf.  

DOMRADIO.DE: In Berlin scheint sich auch gar kein Erwartungsdruck aufgebaut zu haben, was den zeitlichen Rahmen der weiteren Aufklärung angeht. Oder täuscht der Eindruck?

Geyer: Nein, das entspricht auch meinem Eindruck. Von dem Fristendruck, der bei dem Kölner Vorgehen wie so vieles andere auch zunächst ja selbstgesetzt war, scheint sich das Berliner Erzbistum in geradezu aufreizender Weise entlastet zu fühlen. Lassen Sie es mich mal bitte so sagen: Da sind tiefenentspannte Aufklärer am Werk. Während das gesamte Kölner Erzbistum jetzt auf den 18. März hinfiebert, wenn das neue Gutachten veröffentlicht werden soll, hat man in Berlin die Ruhe weg.

Man wolle den unter Verschluss gehaltenen Teil C zunächst einer sechsköpfigen Kommission von Priestern und Laien zur innerkirchlichen Aufarbeitung zukommen lassen, heißt es dort. "Ihre Aufgabe ist es, zu bewerten, wo vertuscht, vernachlässigt, verschleppt oder nicht ordnungsgemäß gehandelt wurde, und mögliche Konsequenzen zu benennen”, erklärte der Berliner Generalvikar. Da werden die Ergebnisse des Gutachtens also erst noch einmal innerkirchlich gefiltert und abgeglichen, und wenn dann irgendwann einmal der Herr Koch Entscheidungen - welcher Art? - trifft unter, wie es heißt, "Berücksichtigung der Sechsergruppe”, dann werde man diese Entscheidungen gemeinsam kommunizieren, sagte der Generalvikar.

Also ein Prozedere, bei dem sich definitionsgemäß gar kein Kommunikationsproblem stellen kann, ein solches wurde gleichsam von vornherein herausdefiniert, weil die Dinge am Ende, versteht man recht, in den informierten Ermessensspielraum des Erzbischofs Koch als oberstem Kommunikator gestellt sind. Dass sich da keine Flamme des Protestes entzündete, finde ich wirklich erstaunlich, jedenfalls wenn man die Berliner Situation mit den in Köln angelegten Maßstäben vergleicht. Nur der Herr Katsch von der Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch” hat sich fundamentalkritisch zu Wort gemeldet, indem er mit Blick auf Berlin erklärte: "Dieses Vorgehen führt das Bemühen um Aufklärung ad absurdum.”

DOMRADIO.DE: Also könnte man jetzt mit der gleichen Vehemenz, mit der man in Köln fordert, die Akte zu veröffentlichen, auch in Berlin fordern: "Veröffentlichen Sie die Akte, Erzbischof Koch!" Warum tut man das nicht?

Geyer: Da fragen Sie mich zu viel. Man hat, warum auch immer, in Berlin ein Einsehen mit den juristischen Gegebenheiten, oder sagen wir besser: Man nimmt sie zumindest hin wie eben auch die Entscheidung, solche juristischen Überlegungen für maßgeblich zu halten und an ihnen die Aufklärung auszurichten. Anders in Köln. Dort scheint man, zugespitzt gesagt, geradezu angewidert von Begriffen wie Persönlichkeitsrecht und äußerungsrechtlichen Vorbehalten etc.

Ich finde es nur auffällig, dass es diese öffentliche Ungleichbehandlung gibt. Woelki pocht wie Koch auf Einhaltung von Standards des Persönlichkeitsrechts, aber beide tun das mit gänzlich verschiedenen Effekten. Freilich tut man das im Kölner Erzbistum auf eine Art, die laut der eigenen Fehleranalyse des Kardinals ein Unding ist. Man kann nicht brutalstmögliche Aufklärung in Aussicht stellen – "ohne Tabus”, wie der Kölner Generalvikar vor etwas mehr als einem Jahr so schön wie "unjuristisch" formulierte – und dann zweimal nicht liefern, zweimal die Präsentation versemmeln.

Das ist, was immer es sonst sein mag, in hohem Maße unprofessionell, handwerklich daneben, und man kommt in der Tat ja aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr heraus, wenn ein derartiges Missmanagement von kirchlicher Apparatur auch noch im Zeichen der Aufklärung steht. Aber all das ändert nichts am springenden Punkt, dass in Berlin wie in Köln Gutachtenergebnisse unter Verschluss genommen wurden, und diese Tatsache mit zweierlei Maß bewertet wird.

Es ist schon eine aparte Pointe, wenn sich der Erzbischof Koch hinstellt und treuherzig zu Protokoll gibt, es sei "zutiefst ärgerlich und zutiefst verletzend für die Opfer und für alle, die darauf warten”, dass sein Amtsbruder in Köln das für nicht rechtssicher erachtete Münchner Aufklärungsgutachten zunächst unter Verschluss genommen und es durch ein neues ersetzt habe. Merkt Herr Koch nicht, dass er im Glashaus sitzt?

DOMRADIO.DE: Wie lässt sich denn erklären, dass man sich so sehr auf den Kölner Erzbischof konzentriert? Liegt unter diesem Konflikt noch viel, viel mehr, als man auf den ersten Blick sieht?

Geyer: Das ist natürlich eine schwierige Frage, weil sie sehr schnell auf das weite Feld von Spekulationen und der Introspektion einer Motivforschung führt, wo man natürlich alsbald in unwegsames Gelände kommt. Es werden ja auch kirchenpolitische Gründe angeführt, die kann man für plausibel halten, muss es aber nicht. Man ist auf solch eine Betriebspsychologie aber auch gar nicht angewiesen, um sich einen Reim zu machen. Denn augenfällig in einem weniger spekulativen Sinne ist das, was ich die Ventilfunktion nennen würde – nämlich der Kölner Situation für den gesamten Einzugsbereich der Deutschen Bischofskonferenz.

In diesem Gremium hat man es bisher erfolgreich vermieden, persönliche Konsequenzen zu ziehen, selbst in Fällen, wo die politische Verantwortung bei Missbrauchsfällen nachgewiesen wurde. Das gilt etwa für die Bischöfe von Osnabrück, Bode, und Essen, Overbeck, die nach wie vor im Amt sind, obwohl dieser Nachweis geführt wurde. Heße in Hamburg ist in der Schwebe. Die Spannung entlädt sich stattdessen bei Woelki, der, wenn ich das richtig verstanden habe, keine Probleme damit hat, seinen Rücktritt in Aussicht zu stellen, sollte dieser Nachweis auch bei ihm gelingen.

DOMRADIO.DE: Also es ist ein enormer Druck da. Und Köln bietet sich als Ventil dafür an, auch weil Köln durch sein mehr als holpriges Kommunikationsgebaren alles dafür getan hat, dass es jetzt in dieser Falle sitzt?

Geyer: Na ja, nehmen Sie nur die Frage, warum das Münchner Gutachten erst nach dem 18. März zugänglich sein soll, also nach der Veröffentlichung von Gehrkes Nachfolgegutachten, das von sich beansprucht, mehr Rechtssicherheit zu bieten als das bislang unter Verschluss genommene der Kanzlei Westphal Spilker Wastl (WSW). Warum kann das WSW-Gutachten nicht schon jetzt veröffentlicht werden, nach all dem Gezerre darum. Warum ist es nicht schon längst veröffentlicht worden?

Salopp gesagt: Das Kölner Erzbistum bekommt es nicht gebacken, diesen Vorgang so darzulegen, dass ihn auch Nichtjuristen auf Anhieb verstehen. Warum, wollen die Leute wissen, lässt man es nicht darauf ankommen, warum verfolgt man durch dick und dünn die Strategie, das Klagerisiko zu vermeiden? Was hätte man schon zu verlieren, so wird weiter gefragt, sollte tatsächlich ein im alten Gutachten belasteter Kirchenfunktionär vor Gericht ziehen? Dann würden eben die womöglich besseren Begründungen für die Anschuldigungen am 18. März mit dem neuen Gutachten nachgeliefert werden können.

Das ist ja erst einmal gar nicht so verkehrt gedacht. Warum es juristisch gesehen so womöglich doch nicht laufen kann, müsste schlüssig dargestellt werden. Das lesen Sie aber nirgendwo. Die Übersetzung von juristischer Systemlogik in lebensweltliche Plausibilitäten scheint vom Erzbistum Köln noch nicht einmal versucht zu werden, obwohl das ersichtlich wesentlich wäre.

Eine andere Unwucht der Kommunikation betrifft den Verdacht, dass das neue Gutachten womöglich nur eine softere Variante des ersten sein könnte, also kurz gesagt de facto ein Beitrag zur Vertuschung sei. Dass offenbar das Gegenteil der Fall ist, ist wenn überhaupt erst sehr spät in der Öffentlichkeit angekommen. Hier bei Ihnen im Domradio hat Gehrke im Dezember erklärt: "Wer glaubt, ob in der Öffentlichkeit oder beim Erzbistum selbst, unser Gutachten wäre angenehmer für das Erzbistum, der wird sich am 18. März wundern. Wir gehen weit über das hinaus, was das Münchner Gutachten präsentiert.” Der Nachweis steht bis zum besagten Datum noch aus.

DOMRADIO.DE: Nun fordern viele den Rücktritt des Kölner Erzbischof Kardinal Woelki. Aber wie weit ist das eigentlich gedacht? Denn würde er zurücktreten aus benannten Gründen, dann müssten doch auch andere Bischöfe aus den gleichen Gründen gehen. Anders ließe sich das doch gar nicht weiterdenken, oder?

Geyer: Da mögen Sie recht haben. Wobei ich nicht zu sagen wüsste, was daran schlimm sein sollte. In Polen wird gerade der Rücktritt des gesamten Episkopats gefordert. Würde Woelki zurücktreten, was freilich vor dem 18. März völlig irrational wäre, weil seine eigene Rolle ja auch Gegenstand des dann veröffentlichten, ihm jetzt vorgeblich noch gar nicht bekannten neuen Gutachtens sein wird – also sollte Woelki zurücktreten, sofern ihm im Kontext des sexuellen Missbrauchs Verantwortung zugeschrieben werden kann, dann wäre damit zugleich der Präzedenzfall geschaffen, der im Einzugsgebiet der Deutschen Bischofskonferenz bislang fehlt, wie vorhin dargelegt.

Und das begründet dann die paradoxe Situation. Woelki würde den bislang fehlenden Maßstab für bischöflichen Amtsverzicht setzen. Sein Rücktritt würde so gesehen erst den Rücktritt anderer Bischöfe ermöglichen und wohl auch erzwingen. Denn das wäre der Ungleichbehandlung dann doch zu viel: dass der eine im Amt bleibt bei einem Typus von Verfehlungen, für welchen ein anderer zu gehen hätte. Das würde sich die Öffentlichkeit erwartbar nicht bieten lassen. Insoweit dürfte Ihr Wort vom Bischofsbeben nicht aus der Luft gegriffen sein.

DOMRADIO.DE: Die Bischöfe mit ihrer jeweiligen Vorgeschichte auch in anderen Bistümern begeben sich, wenn sie den Kölner Erzbischof Kardinal Woelki kritisieren oder sogar rügen, auf sehr dünnes Eis?

Geyer: Unter Umständen ja. Die Bischöfe von Essen und Osnabrück wären, so sie weiter an ihrem Amt kleben möchten, sicherlich gut beraten, wenn sie sich mit Abreibungen ihres Amtsbruders Woelki zurückhalten würden. Tun sie ja auch, wenn ich mich nicht täusche. Dass der Berliner Bischof Koch seine anders gelagerte Glashaus-Situation meint ignorieren zu können, hat etwas Schräges, wie besprochen.

Nicht minder schräg kommt Kardinal Marx rüber, wenn er meint, Woelki zur Schadensbegrenzung mahnen zu können, ohne zugleich für sich selbst Konsequenzen zu ziehen. Der Wikipedia-Eintrag hält zu Marx fest, dieser habe es als Bischof von Trier im Jahre 2006 versäumt, sexuellem Missbrauch durch einen Trierer Diözesanpriester nachzugehen: "Weder der beschuldigte Priester noch das Opfer wurden von ihm angehört. Durch seinen Sprecher ließ er im Jahre 2019 bekanntgeben, dass sein Versäumnis ihn sehr plage und dass er heute anders handeln würde.” Ob das Bekenntnis, geplagt zu sein, auf Dauer ausreicht?

Als Bischof von Trier arbeitete Marx im übrigen einige Jahre mit Bätzing zusammen, der damals Regens des Trierer Priesterseminars war. Kann es sein, dass man in dieser Funktion als Regens nichts von Vertuschungen sexuellen Missbrauchs durch Priester gewusst hat? So zieht eine Frage die nächste nach sich. Das ist ganz unvermeidlich und könnte einen Ruck durchs deutsche Episkopat bedeuten, von dem nicht wenige sagen, dass er überfällig sei. Auch vor diesem Hintergrund liegt es gleichsam in der Natur der Sache, nicht auf Woelki fixiert zu bleiben.

Das Interview führte Johannes Schröer.


Erzbistum Köln in der Kritik (shutterstock)
Quelle:
DR
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