DOMRADIO.DE: Die vermeintlichen Friedenspläne, die ohne die Beteiligung der Ukraine und Europas geschmiedet werden, sehen mehr nach einem Deal denn nach einer echten Zukunftsperspektive für die widerrechtlich angegriffene Ukraine aus. Wie wirkt das, was gerade über den Kopf der Ukraine hinweg geschieht, auf Sie?
Vater Hennadii Aronovych (Priester der ukrainisch griechisch-katholischen Kirche und Mitglied der internationalen Seelsorge im Erzbistum Köln): Wenn es um Frieden geht, darf der Aspekt der Gerechtigkeit nicht fehlen. Denn das, was wir Ukrainer mehr als alles andere ersehnen, ist ein gerechter Friede; ein Friede, der auf dem Völkerrecht, das alle demokratischen Länder unterstützen, basiert.
Unstrittig ist doch, in diesem Krieg gibt es ganz klar einen Aggressor und auf der anderen Seite die Opfer. Und diese Wahrheit darf man nicht willkürlich und nach Belieben umkehren, wenn es jetzt mit einem Mal heißt, die Ukrainer seien den Krieg oder auch seinen langen Verlauf selbst schuld. Russland muss Rechenschaft für seine Verbrechen an der Menschlichkeit ablegen.
Anders gesagt: Wenn wir keinen gerechten Frieden bekommen, würde die Demokratie zugunsten von Unwahrheiten und Eigeninteressen autokratischer Staaten auf dem Altar unserer Wertegemeinschaft geopfert. Das aber darf nicht passieren. Deshalb wünschen wir uns in der Ukraine, dass sich die europäischen Staaten miteinander verbünden und entschlossen gegen ein uns übergestülptes ungerechtes Ende dieses Krieges vorgehen. Noch einmal: Niemand in der Ukraine hat diesen furchtbaren Krieg mit seinen verstörenden Gräueltaten gewollt. Dafür ist ganz allein Putin verantwortlich.

DOMRADIO.DE: Welche politische Lösung würden Sie völlig ausschließen?
Aronovych: Einen Diktatfrieden, weil wir schon viel zu viel für die Souveränität unseres Staates und die Wahrung seiner Grenzen geopfert haben. Wir wollen unbedingt Frieden für die Ukraine, aber der Preis dafür war in den letzten drei Jahren zu hoch, als dass wir uns nun von anderen sagen lassen könnten, wie wir zu leben haben. Daher muss es in jedem Fall ein gerechter Frieden sein.
Das heißt, wir werden niemals auf unser freies, souveränes Land verzichten. Dafür kämpfen wir letztlich seit Jahrhunderten und nicht erst seit 2022. Wir wissen, wie es ist, unter sowjetischer Herrschaft zu leben, und ahnen, was es bedeuten würde, unter russischer Führung zu stehen.
Das ist etwas, was wir für die Geschichte unseres Landes und für unsere Kinder, die in diesem Land frei aufwachsen sollen, auf keinen Fall mehr wollen. Es ist sehr traurig, dass meine Generation für den Erhalt unserer Freiheit und unserer territorialen Grenzen kämpfen muss und zigtausende Menschen für diesen Kampf ihr Leben gelassen haben. Allein schon deshalb können wir nicht aufgeben.
DOMRADIO.DE: Die Menschen sind erschöpft, unzählige traumatisiert, ganze Städte und Landstriche zerstört, viele Orte unbewohnbar. Was hat sich aus Ihrer Sicht im dritten Kriegsjahr im Vergleich zu den Vorjahren nochmals verändert?
Aronovych: Unser Kirchenoberhaupt, Großerzbischof Sviatoslav Shevchuk, hat ein Buch mit dem Titel "Die Ukraine steht, die Ukraine kämpft, die Ukraine betet" herausgegeben. Diese Überschrift, die ja eine Feststellung ist, kann ich nur unterstreichen, weil sich daran seit Ausbruch des Krieges nichts geändert hat. Die Ukraine steht immer noch – worauf wir mächtig stolz sind – und leistet zur Wahrung der eigenen Identität und Souveränität erbitterten Widerstand. Vor allem aber vertraut sie auf Gott.
Was sich dagegen in erschreckendem Maße verändert, ist die Größe unserer Friedhöfe, weil wir an ihrer Ausdehnung die Wunden ablesen können, die dieser Krieg geschlagen hat und die er in den Seelen der Menschen hinterlässt. Inzwischen ist fast jede Familie vom Krieg betroffen. Entweder kämpfen Angehörige an der Front oder aber sie haben bereits einen geliebten Menschen im Kampf oder durch Raketen- oder Drohnenangriffe verloren. Oder aber sie engagieren sich freiwillig und werden mit dem Leid vieler Soldaten und auch Zivilisten konfrontiert, die in ihrem Alltag dringend auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen sind.
DOMRADIO.DE: Sie feiern mit Ihren Landsleuten regelmäßig Gottesdienste, dafür sind Sie im gesamten Erzbistum unterwegs, inzwischen auch in einem Teil des Bistums Trier. Haben Sie überhaupt noch Kraft, die Menschen, die geflüchtet sind, um sich in Deutschland in Sicherheit zu bringen und vielleicht auch eine neue Existenz aufzubauen, zu trösten, ihnen Mut zu machen?

Aronovych: Unsere Gemeinden sind Orte des Trostes und der Hoffnung. In vielen Gesprächen machen wir uns gegenseitig Mut. Und als Priester habe ich die moralische Verpflichtung, auf mich selber zu achten, damit ich immer wieder neu auch die nötige Energie aufbringe, für die Menschen da zu sein.
Dabei ist meine wichtigste Kraftquelle meine Beziehung zu Gott, die zu meiner Familie und dann – ehrlicherweise – auch die zu einem Psychologen, weil mir das bei der Verarbeitung vieler Erlebnisse hilft. Wer viel gibt, muss den Akku auch immer mal wieder aufladen.
Ich empfinde es als meine Berufung, für diejenigen da zu sein, die mich gerade jetzt akut brauchen. Auch aus diesem Gebrauchtwerden beziehe ich Kraft. Wenn jedes Gespräch, jeder Besuch, jedes Gebet auch nur ein klein wenig Linderung, Trost oder Hoffnung schenkt, erfülle ich einen ganz wesentlichen Auftrag an diesen von großem Leid gezeichneten Menschen.
DOMRADIO.DE: Was berichten Ihnen denn Ihre Landsleute aus der Heimat? Haben sie überhaupt noch Hoffnung, dass eines Tages dieses Leid aufhört? Und wie können Sie darauf als Seelsorger reagieren?
Aronovych: Ein ukrainisches Gedicht trägt den Titel "Contra spem spero – Wider alle Hoffnung hoffe ich". Das bringt die Haltung vieler Ukrainer treffend zum Ausdruck. Auch wenn ein Ende des Krieges im Moment noch nicht absehbar ist, geben wir die Hoffnung nicht auf. Für viele meiner Landsleute ist Hoffnung das einzige, woran sie sich noch klammern können. Deshalb dürfen wir das nicht zerstören.
Als Seelsorger müssen wir dafür sorgen, dass selbst die kleinste Glut an Hoffnung nicht verlischt. Dabei leitet uns das Motto "Deine Kirche ist immer und überall mit dir".

Wir gehen dahin, wo wir gebraucht werden und wo die Not am größten ist. Gerade in der Ukraine sind unsere Kirchen Zeichen der Hoffnung. Und deshalb haben auch unsere Priester das Land nicht verlassen. Sie sind nach wie vor in ihren Gotteshäusern anzutreffen oder als Seelsorger an der Front im Osten oder aber auch in den Gemeinden im Westen.
Dass wir noch da sind, ermutigt auch andere, die Hoffnung nicht aufzugeben. Darin müssen wir uns gegenseitig stärken. Und dafür sind gerade auch wir ukrainischen Priester im Erzbistum Köln da: dass wir diese Hoffnung lebendig halten, dass wir uns als Volk Gottes versammeln und dass wir uns gegenseitig vergewissern, eine Zukunftsperspektive zu haben.
DOMRADIO.DE: Die Kirchen in der Ukraine waren von Beginn des Krieges an Zufluchtsstätten und karitative Zentren. Hat sich die Rolle der Kirche in den letzten drei Jahren gewandelt?
Aronovych: Nach einer aktuellen Studie, die sich damit beschäftigt, was die Menschen in der Ukraine von der Kirche erwarten, kommt gleich hinter der Seelsorge ihr karitatives Engagement. Alle Initiativen, die gleich zu Beginn des Krieges in den Gemeinden entstanden sind, haben inzwischen eine professionelle Struktur bekommen – auch mit starken europäischen Partnern, also über die eigenen Landesgrenzen hinaus. Denn es geht natürlich auch um finanzielle Unterstützung, wie sie uns das Erzbistum Köln, die anderen deutschen Diözesen und die Kirche weltweit zur Verfügung stellen.
Der Besuch von Kardinal Woelki in der Ukraine im August letzten Jahres war diesbezüglich ein enorm wichtiges Zeichen der Solidarität. Kurz zuvor hatte der Erzbischof das Ferienlager ukrainischer Kinder an der Steinbachtalsperre besucht, worüber wir uns ebenfalls sehr gefreut haben.
Danach hatten wir mit ihm noch einmal ein Treffen in Köln, bei dem er von den Eindrücken seiner Reise und auch seiner Betroffenheit berichtet hat und wir spüren konnten, dass ihm die Situation in der Ukraine am Herzen liegt – als Seelsorger, aber auch als Bischof. So hat der Kardinal zum Beispiel ein Flüchtlingszentrum in einem Wallfahrtsort nahe Lviv mit dem dortigen Weihbischof Wolodymyr Hruza besucht und auch andere Orte, wo geflüchtete Menschen von der Kirche begleitet werden.
Wie überhaupt die Kirche die Sorge um vom Krieg traumatisierte Menschen zu ihrem Thema gemacht hat, zumal sie über die dafür nötigen Netzwerke verfügt und der Staat all dies alleine nicht leisten kann. Es wird gerade in allen ukrainischen Bistümern ein Programm erarbeitet, bei dem viel Expertenwissen von Medizinern, Therapeuten und Psychologen gefragt ist, aber auch wir Seelsorger eine wichtige Rolle bei der Traumabewältigung und Heilung seelischer Kriegswunden spielen. Von daher hat sich die Aufgabe der Kirche noch einmal deutlich verändert; es ist eine völlig neue Dimension hinzugekommen.
DOMRADIO.DE: Bemühen wir einmal das Prinzip Hoffnung: Sollte es bald zu einem wie auch immer gearteten Waffenstillstand kommen, wird diesem Land eine ganze Generation fehlen, die ihr Leben an der Front gelassen hat. Was für ein Land wird die Ukraine nach dem Ende dieses schrecklichen Krieges mit zigtausenden Toten, Gefolterten, Verschleppten und Versehrten sein? Und noch einmal: Welche Bedeutung wird dabei die Kirche haben?

Aronovych: Nach diesem Krieg, von dem wir inständig hoffen, dass er bald beendet wird, werden wir sicher auch ein Stück weit verwaist sein; viele Menschen, die als Soldaten gefallen sind oder auf andere Weise ihr Leben verloren haben, werden wir schmerzlich vermissen. Trotzdem müssen die Hinterbliebenen irgendwie weiterleben – auch im Namen ihrer Verstorbenen – und alle Kräfte mobilisieren, um dieses in weiten Teilen zerstörte Land wieder aufzubauen. Nichts wird so sein wie vor dem Krieg.
Unsere Städte, aber auch die Menschen werden anders aussehen, wenn ich da an unsere vielen Soldaten denke, denen zu tausenden Arme, Beine und Hände fehlen. Nach diesem Krieg werden wir ein anderes Volk sein. Und uns ist bewusst, dass wir dann eine große Verantwortung haben, weil die Zukunft der Ukraine in unseren Händen liegt.
Darauf bereiten wir uns jetzt schon vor – als Kirche und als Volk. Wir dürfen nicht dabei stehen bleiben zu weinen und zu klagen, sondern müssen nach einer Zeit der Trauer anpacken und dieses Land wieder aufbauen, womit wir schon jetzt beginnen, indem wir uns auf unsere Stärken besinnen, alle unsere Kräfte bündeln und uns für unser Land – in der Ukraine selbst, aber auch außerhalb des Landes – einsetzen. Als Ukrainer – auch als Kriegsflüchtlinge, die in der ganzen Welt verstreut sind – sind wir die Botschafter unseres Landes und müssen die Erfahrungen, die wir gerade machen, später zum Wohl der Ukraine umsetzen.
Die Kirche muss diesen Prozess im Gebet begleiten. Und sie muss immer wieder Hoffnung schenken – wie damals im Zweiten Weltkrieg der Kölner Dom, der nach der Zerstörung der Stadt wie durch ein Wunder stehen geblieben war und damit zu einem Hoffnungszeichen inmitten der Verwüstung wurde, das die Menschen dazu bewegt hat, diese Stadt wiederaufzubauen. Ich kann es nicht oft genug sagen: Unsere Aufgabe ist es, Hoffnung zu vermitteln. Als Kirche sind wir immer an der Seite der Menschen. Wo unser Volk ist, da ist auch unsere Kirche.
Ich besitze eine kleine ukrainische Ikone, auf der die Fußwaschung abgebildet ist: allerdings nur mit Füßen und Händen. So stelle ich mir die Rolle der Kirche vor: dienend. Sie tut alles dafür, dass das ukrainische Volk die nötige Kraft findet, diesen Krieg zu überstehen, um dann eines Tages auch wieder nach vorne schauen zu können. Es wird für uns eine Zeit nach dem Krieg geben.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.