Wohlfahrtsforscherin Heintze zur Situation der Pflege

"Wir haben sozusagen einen Pflexit"

Die Pflege in Deutschland geht nach Meinung der Wohlfahrtsforscherin Cornelia Heintze an den gesetzlich niedergelegten Qualitätszielen vorbei. Man müsse Pflege zur öffentlichen Aufgabe machen.

 (DR)

KNA: Frau Heintze, wie beurteilen Sie die Verbesserungen für die Pflege, die im Koalitionsvertrag vereinbart wurden?

Heintze: Das ist nicht mal ein Tropfen auf dem heißen Stein. Allein, wenn man die schlechter bezahlte Altenpflege an die Krankenpflege angleichen wollte, würde das gut sechs Milliarden Euro kosten. Und um bei den öffentlich finanzierten Leistungen den Durchschnitt der OECD-Länder zu erreichen, müsste Deutschland rund 12 Milliarden Euro mehr pro Jahr investieren. Das versprochene Schnellprogramm von 8.000 Stellen geht angesichts von mehr als 13.000 Heimen völlig am Bedarf vorbei.

KNA: Außerdem muss man die 8.000 Leute auch erst mal finden...

Heintze: Die Politik hat es versäumt, positive Signale für einen Aufbruch in der Pflege zu senden. Wir haben bei Personalausstattung und Personalschlüsseln eine der schlechtesten Situationen im Vergleich mit anderen hochentwickelten Ländern. Ende des Jahres waren 24.000 Stellen in der Pflege nicht besetzt.

Und während der Markt bei den Pflegekräften leer gefegt ist, wandern noch Fachkräfte in die Nachbarländer ab, wo besser bezahlt wird und die Bedingungen besser sind. Eine Abstimmung mit den Füßen. Wir haben sozusagen einen Pflexit.

KNA: Wie wirkt sich das auf die Qualität der Pflege aus?

Heintze: Gesetzliche Normen und Pflegerealität gehen weit auseinander. In der Pflege-Charta und den einschlägigen Gesetzen ist beispielsweise festgelegt, dass die Menschen Anspruch auf Pflege nach fachwissenschaftlichen Standards und ihrem individuellen Bedarf haben. Das wird vielfach nicht eingelöst.

KNA: Die Frage ist doch auch, wer das bezahlen soll...

Heintze: Aus meiner Sicht ist die Einführung der Pflegeversicherung der Sündenfall gewesen...

KNA: ...die eine Teilkasko-Versicherung sein soll...

Heintze: Es wäre ja schön, wenn das so wäre. Bei einer Teilkasko-Versicherung wird eigentlich die private Zuzahlung begrenzt. Bei der Pflegeversicherung ist es genau umgekehrt: Die Versicherungsleistungen sind gedeckelt und nicht dynamisiert, und für alles andere muss der Versicherte sorgen.

KNA: Die Familien müssen hohe Verantwortung übernehmen.

Heintze: Anders als etwa in Skandinavien ist Pflege in Deutschland in erster Linie eine private Angelegenheit. Zu zwei Dritteln übernehmen das die Töchter oder Schwiegertöchter. Dieses System fährt angesichts der veränderten Arbeits- und Familienstrukturen aber über kurz oder lang an die Wand. Außerdem hat man den Markt für private, also gewerbliche Anbieter geöffnet.

Immer mehr Investmentfonds investieren in Pflegeheime, private Unternehmen betreiben Einrichtungen und ambulante Pflegedienste. Es besteht Lohnkonkurrenz. Der ganze Bereich ist nach den betriebswirtschaftlichen Kriterien einer Marktökonomie durchrationalisiert. Die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen sind zweitrangig.

KNA: Gäbe es Alternativen?

Heintze: In den skandinavischen Ländern, aber auch in den Niederlanden, ist Pflege eine öffentliche Aufgabe, die auch zu annähernd 100 Prozent öffentlich finanziert wird. Die Kommunen sind in der Pflicht, die Pflege zu organisieren und zu steuern. Sie sind auch größtenteils für die Erbringung der Pflege zuständig. Das heißt natürlich auch, dass der Staat im Schnitt zwei- bis dreimal so viel Geld in die Pflege steckt wie bei uns.

KNA: Können Sie konkret beschreiben, wie das abläuft?

Heintze: In Skandinavien hat jeder Bürger gegenüber der Kommune das Recht auf die Unterstützungsdienste, die er benötigt, um ein hohes Maß an Selbstständigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe zu behalten. Die Familien haben weder rechtlich noch moralisch die Verpflichtung, die Pflege zu übernehmen. Der Staat tritt dem Bürger direkt entgegen, es gibt auch keine Versicherungen.

KNA: Wer bestimmt, was der Bürger braucht?

Heintze: Ein hoch bürokratisches Einstufungsverfahren mit drei oder fünf Pflegegraden wie in Deutschland gibt es nicht. Die skandinavischen Länder folgen der Philosophie, dass sich die höchst individuellen Bedürfnisse nicht in ein enges Raster pressen lassen.

Jeder Bedürftige durchläuft ein Pflege-Assessment, in dem die individuellen Bedürfnisse festgestellt werden. Die Hilfe zur Selbsthilfe steht im Vordergrund. In den meisten Fällen reichen wenige Stunden Unterstützung pro Woche aus. Aber auch in der Heimpflege ist viel mehr Zeit für individuelle Betreuung. Skandinavische Heime stellen drei Mal so viel Personal zur Verfügung wie deutsche.

KNA: Wäre die Einführung eines solchen Systems in Deutschland möglich?

Heintze: Das wäre eine Revolution, und die ist in Deutschland nicht sehr wahrscheinlich. Auch haben wir ein anderes Staatsverständnis. Aber man sollte in die Richtung einer Mischfinanzierung aus höheren Leistungen der Pflegeversicherung und Steuerzuschüssen denken.

Die Politik hat versprochen, dass der Beitragssatz zur Pflegeversicherung bis 2022 stabil bleibt. Das heißt aber im Umkehrschluss, dass alle Leistungsverbesserungen von den Pflegebedürftigen und ihren Familien finanziert werden müssen. Aber das können viele sich nicht leisten. 

KNA: Und die Steuererhöhungen?

Heintze: Union und SPD haben sich selbst gefesselt und so Spielräume genommen: Sie wollen keine Steuererhöhungen, wollen den Solidaritätszuschlag runterfahren und wollen die Sozialbeiträge mit einem willkürlichen Deckel versehen. Das ist eine Sackgasse. Ich bin der Meinung, dass der Soli umgewidmet werden sollte, um die riesige Zukunftsaufgabe Pflege zu lösen.

Christoph Arens


Quelle:
KNA
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