Wolfgang Thierse vor dem SPD-Parteitag zur "GroKo"

"Eine wirklich schwierige Entscheidung"

Am Wochenende soll eine Vorentscheidung fallen: Große Koalition - oder nicht? In Bonn trifft sich die SPD zu ihrem Sonderparteitag. Wie sollen sich die "Genossen" verhalten? Antworten gibt SPD-Politiker Wolfgang Thierse im Interview.

SPD will auf Sonderparteitag über Große Koalition entscheiden / © Michael Kappeler (dpa)
SPD will auf Sonderparteitag über Große Koalition entscheiden / © Michael Kappeler ( dpa )

DOMRADIO.DE: Die Kritiker der Großen Koalition in der SPD sagen, dass nach so einer Entscheidung die SPD bei den kommenden Wahlen noch weiter abrutschen wird. Was sagen Sie dazu?

Wolfgang Thierse (Ehemaliger Bundestagspräsident, SPD-Politiker und Mitglied im Zentralkomitee deutscher Katholiken): Ja, es ist eine wirklich schwierige Entscheidung. Das Ergebnis der Sondierungs-Verhandlung hat natürlich nicht alle Hoffnung und alle Träume erfüllt. Das kann man kritisieren und man kann vermerken, was alles fehlt: keine Änderung bei Steuern oder die Bürgerversicherung; um nur zwei zentrale Punkte zu nennen.

DOMRADIO.DE: Aber ist das überraschend?

Thierse: Es ist nicht wirklich überraschend. Die SPD ist ja nicht mit einem strahlenden Sieg in diese Koalitionsvorgespräche gegangen, sondern mit 20 Prozent. Und es war klar, es wird nur auf dem Kompromiss-Wege zu einer Vereinbarung kommen.

DOMRADIO.DE: Sind Sie denn zufrieden?

Thierse: Ich finde, es ist schon seitens der SPD eine Menge erreicht worden – fast mehr, als ich jedenfalls persönlich erwartet habe.

DOMRADIO.DE: Und jetzt?

Thierse: Das führt mich dazu, zu sagen, man sollte den Weg zu Koalitionsverhandlungen öffnen. Das heißt, man verhandelt noch einmal auf der Basis der Ergebnisse der Sondierung. Aber die Sondierungs-Ergebnisse sind noch nicht die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen. Man muss konkretisieren, ergänzen, man muss verschärfen und dann das Ergebnis der Basis, den Mitgliedern der SPD, vorlegen. Alles andere würde ich jedenfalls für ein Misstrauensvotum gegenüber den SPD-Mitgliedern halten, denen man die Chance, darüber zu befinden, was die Partei tun soll, dann nicht gibt.

DOMRADIO.DE: Verschiebt man nicht in gewissem Sinne das Problem, wenn man jetzt eine neue große Koalition eingeht? Wir haben es bei den letzten Wahlen gesehen. Da hat die SPD immer mehr an Prozentpunkten verloren und hat auch immer weniger Einfluss auf die Inhalte. Wie wird es dann bei der nächsten Bundestagswahl aussehen?

Thierse: Also weniger Einfluss auf die Inhalte, das stimmt ja nicht. Die SPD hat in der vergangenen großen Koalition sehr viel erreicht; vieles von dem, was sie vereinbart und verlangt hatte. Sie ist nicht dafür belohnt worden. Das ist bedauerlich, das ist schmerzlich. Deswegen war es hoch verständlich, dass Martin Schulz am Wahlsonntagabend gesagt hat, Schluss mit der großen Koalition. Wir machen das nicht weiter. Das war eine richtige, notwendige und auch ganz konsequente Entscheidung.

DOMRADIO.DE:  Aber dann kam es doch anders...

Thierse: Dann gab es wochenlang quälende Jamaika-Verhandlungen, die wohl wegen Lindner und der FDP gescheitert sind. Dann die Mahnung des Bundespräsidenten und plötzlich gab es eine andere Situation.

DOMRADIO.DE: Ein Grund, die Entscheidung umzuwerfen?

Thierse: Nun ja. Soll die SPD sich weiterhin verweigern? Also einfach Nein sagen, egal was passiert? Das wäre auch nicht verantwortlich gewesen. Also war die Bereitschaft zu einem Gespräch eine notwendige Konsequenz.

DOMRADIO.DE: Die Gespräche sind nun gelaufen. Und die SPD hat nicht alles erreicht, was sie wollte. Und nun?

Thierse: Aber einiges. Das muss man jetzt bewerten, das soll man weitertreiben. Dann muss die Partei insgesamt sagen, wollen wir diesen schwierigen Weg noch einmal gehen? Oder wollen wir Nein sagen? Was ist uns wichtiger; die Reinheit und Klarheit der Partei oder die kleinen Schritte zur Verbesserung der Lage für Rentner, die Kinder, in der Bildung oder etwa in Sachen Europa?

DOMRADIO.DE: Was wäre Ihr Vorschlag?

Thierse: Ich sage, die SPD war in ihrer Tradition immer eine Reformpartei der kleinen Schritte, um der konkreten Menschen Willen. Nicht der revolutionären Systemänderung, sondern konkrete Schritte waren für konkrete Menschen nur auf dem Weg des Kompromisses erreichbar. "Der Fortschritt ist eine Schnecke", hat Günter Grass einmal gesagt.

DOMRADIO.DE: Muss man nicht die Angst haben, wenn es jetzt eine neue große Koalition gibt, dass die SPD vielleicht sogar hinter Grüne, oder AFD rutscht?

Thierse: Die Angst muss man haben. Aber die Alternative zu einer Regierungsbildung jetzt wären ja nur Neuwahlen. Keiner weiß, wie diese Neuwahlen ausgehen würden, aber ich habe Fantasie genug, zu sagen, dass dann das Schwarze-Peter-Spiel beginnt.

DOMRADIO.DE: Was meinen Sie damit?

Thierse: Dass der schwarze Peter vor allem bei der SPD liegt. Sie hat sich geweigert, in die Regierung einzutreten. Sie ist unfähig und unwillig zu regieren. Das können die anderen Parteien ausnutzen. Deswegen sage ich, jede Entscheidung für die SPD ist außerordentlich schwierig und die Partei steckt in einer sehr unangenehmen Situation. Aber das ist das Ergebnis von Wahlen, das Ergebnis des taktischen Verhaltens anderer Parteien. Und in dieser Situation muss man trotzdem eine Entscheidung treffen. Und da geht es nur um das relativ Bessere oder das relativ Schlechtere und nicht um Gut oder Böse, um Triumph oder Abgrund.  

DOMRADIO.DE: Sie haben lange Jahre Erfahrung als Bundestagsabgeordneter, als Bundestagspräsident. Man weiß, eine große Koalition ist immer ein schwieriges Thema. Ist denn das, was wir im Moment erleben, ein normaler demokratischer Alltag oder ist das tatsächlich so ein außergewöhnliches Problem, wie es dargestellt wird?

Thierse: Nein, dass Regierungsbildungen immer auch schwierig sein können, ist doch demokratischer Alltag. Schauen wir uns ringsum die anderen europäischen demokratischen Länder an. Dann kann man sehen, dass das nicht immer leicht ist, weil die Wähler heutzutage nicht mehr so einfach einer Partei zur absoluten Mehrheit verhelfen, sondern dass es immer auch ein widersprüchliches Bild gibt.

DOMRADIO.DE: Ist das denn beunruhigend?

Thierse: Das ist auch nicht wirklich beunruhigend. Das ist die Verantwortung der Wähler gewesen, dass sie ein Wahlergebnis erzielt haben, mit dem die Regierungsbildung anschließend schwer wird.

Im Übrigen, die große Koalition ist ja dann zahlenmäßig nicht mehr ganz so groß wie die vorherige. Es wird im Parlament auf jeden Fall - selbst wenn es wieder eine große Koalition geben sollte - viel heftiger und bunter und munter zugehen, als bei den vergangenen Malen.

DOMRADIO.DE: Sie sind überzeugter Katholik, was spielt das für eine Rolle? Gibt es vielleicht ein bisschen Zuversicht, dass das doch noch alles gut ausgeht?

Thierse: Wir wollen es hoffen, dass es gut ausgeht. Jedenfalls glaube ich, als Christ kann man die Gelassenheit entwickeln, dass es bei einer solch schwierigen Entscheidung nicht um Himmel oder Hölle geht, sondern um immer vorläufige Entscheidungen. Die Politik ist die Sphäre des Vorläufigen und nicht die des Endgültigen und Absoluten.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.


Wolfgang Thierse (dpa)
Wolfgang Thierse / ( dpa )
Quelle:
DR