DOMRADIO.DE: Wie kommt man überhaupt an Informationen, wenn kaum jemand aus dem Ausland nach Afghanistan einreisen kann?
Dirk Bathe (Mitarbeiter in der Pressestelle bei der christlichen Hilfsorganisation World Vision): Wir haben zum Glück seit über 20 Jahren lokale Mitarbeiter in Afghanistan, die für World Vision Afghanistan arbeiten und die auch noch im Land sind. World Vision hat im Vergleich zu anderen Hilfsorganisationen das Land nicht verlassen. Und diese Mitarbeiter, einige 100 an der Zahl, sind im gesamten Land im Einsatz – ein paar Gebiete erreichen wir nicht, die können wir nicht abdecken, aber viele andere doch. Sie haben dort 800 Familien nach ihrer persönlichen Situation befragt. Das ist nicht repräsentativ, aber es bietet einen sehr guten Einblick in die momentane Situation.
DOMRADIO.DE: Wie geht es den Mitarbeitern?
Bathe: Es geht ihnen verhältnismäßig gut. Sie haben noch einen Job, verdienen Geld, und leben in relativer Sicherheit. Etliche von unseren Mitarbeitern, die vor der Machtübernahme durch die Taliban für uns tätig waren, haben aber auch über Umwege das Land verlassen – nach Pakistan, Iran, weiter nach Europa, teilweise auch Deutschland. Es geht den Mitarbeitern noch gut, weil sie auch sehr engagiert sind. Sie wollen das Land und die Bevölkerung nicht aufgeben. Aber ewig lässt sich das natürlich unter den gegebenen Umständen nicht durchhalten.
DOMRADIO.DE: Lassen Sie uns konkret in den Bericht schauen. Was im Moment beklagt wird, ist das große Wirtschaftsproblem im Land. In den Läden gibt es zwar Lebensmittel, aber die können sich viele nicht leisten, weil kein Geld mehr ins Land kommt. Der Durchschnittsverdienst liegt unter einem Euro am Tag. Was heißt das für die Familien und konkret für die Kinder, mit denen Sie sich befasst haben?
Bathe: Nahrung gibt es noch in den großen Städten. In den Supermärkten herrscht aber auch teilweise gähnende Leere. Es gibt nicht mehr das Angebot, das es früher gab. Auf dem Land gibt es eigentlich fast gar nichts mehr zu kaufen, da ist der Wirtschaftskreislauf einfach zusammengebrochen. Und wenn die Leute kein Geld mehr haben oder nur den von ihnen genannten einen Euro am Tag – das ist übrigens das durchschnittliches Einkommen pro Familie, nicht pro Kopf – dann wird es knapp. Dann muss man selber anbauen. Wenn dann aber, wie jetzt geschehen, noch eine Dürre dazukommt, haben auch die Bauern nichts mehr zu essen.
DOMRADIO.DE: Und die Kinder?
Bathe: Die Kinder leiden am meisten, denn sie sind die Schwächsten, also auch körperlich Schwächsten. Bei ihnen wirkt sich eine längere Hungerperiode, eine Hungerphase, fatal aus. Das heißt, sie bleiben in der körperlichen oder geistigen Entwicklung bestenfalls stehen oder gehen sogar zurück und stehen hinten an.
DOMRADIO.DE: Ein großes Thema ist auch die Frage der Schulbildung. Mädchen dürfen nur noch bis zur sechsten Klasse in die Schule gehen. Was ist in den unteren Klassen los: Wie geht es da den Mädchen, aber auch den Jungen?
Bathe: Sehr viele Kinder gehen gar nicht mehr zur Schule. Das hat auch wirtschaftliche Gründe. Sie versuchen irgendwo eine Arbeit zu finden – als Tagelöhner auf dem Feld, im Steinbruch oder sonst wo – und versuchen, ihre Familien zu unterstützen. Wir haben herausgefunden, dass in etwa 70 Prozent der Mädchen nicht mehr zur Schule gehen. Da spielt natürlich auch das Verbot des Schulbesuchs nach der sechsten Klasse mit hinein. Bei den Jungen ist es etwa die Hälfte, die zur Schule gehen könnte, aber stattdessen eine Arbeit sucht.
DOMRADIO.DE: Nun ist es in einem fundamental-islamischen Kontext leider nicht ungewöhnlich, dass es zu Kinderehen kommt. Das ist ein Problem, mit dem Sie sich auch auseinandergesetzt haben.
Bathe: Das ist ein kulturelles, aber in allererster Linie ein wirtschaftliches Problem. Niemand verheiratet sein Kind im Regelfall gerne so früh. Aber wenn sie nicht mehr wissen, wovon sie dieses junge Mädchen ernähren sollen und sie eine Perspektive darin sehen, es zu verheiraten, damit es vom Ehemann versorgt wird, dann ist das in der Tat eine Alternative, die Menschen in Erwägung ziehen.
DOMRADIO.DE: Welche Konsequenzen hat das für die verheirateten Mädchen?
Bathe: Fatale. Sie gehen nicht mehr zur Schule, sie werden sehr früh Mutter – und gleich mehrfach. Sie haben keine oder wenig persönliche Freiheiten mehr. Das ist etwas, wogegen wir ganz stark angehen, wo wir auch durchaus erfolgreich mit Aufklärungskampagnen versuchen, diese Zahl zu drücken. Sie können es den Leuten ja nicht verbieten, wenn die gesetzlichen Vorgaben nicht da sind. Sie müssen mit den Menschen reden, das hilft durchaus.
DOMRADIO.DE: Ein großes Problem im Land ist auch das Finanzsystem, weil niemand aus dem Ausland mit den Taliban zusammenarbeiten will. Wie gehen Sie als Hilfswerk damit um?
Bathe: Das ist in der Tat ein großes Problem. Wir sehen das schon so, dass die Sanktionen gegen das Bankensystem in Afghanistan zu pauschal gehalten sind. Die Auslandskonten sind eingefroren, es fließen kaum noch Gelder ins Land und der Bankensektor hat nicht wie bei uns die Möglichkeit, Gelder entsprechend zu verteilen. Wir behelfen uns mit Bargeld. Das ist natürlich nicht wirklich unsere Traumvorstellung von Geldfluss. Es ist auch viel zu gefährlich. Wir fordern, dass hier nicht mehr so pauschalisiert wird und dass die Arbeit von Hilfsorganisationen über das Bankenwesen finanziert werden kann, damit auch Spenden, die durchaus da sind, die Menschen schnell erreichen können und nicht über den Umweg, dass wir erst Bargeld besorgen müssen, Sachen einkaufen, diese verteilen und so weiter, sondern sich die Leute wieder selber helfen können.
Ich verstehe, dass es eine Gratwanderung für die internationale Politik ist. Es gibt kaum Sympathien für die Taliban, natürlich nicht. Da muss man schauen, dass man den Geldfluss auf der einen Seite nicht so weit öffnet, aber auch nicht soweit geschlossen hält, dass damit niemandem in Afghanistan mehr gedient ist. Die Bevölkerung sollte an erster Stelle stehen.
Das Interview führt Renardo Schlegelmilch.