Gewalt, Angst und Schrecken sind auch im neuen Jahr nicht verschwunden. Gerade hier in Köln wurde das deutlich. Auf diesem Platz vor dem Hauptbahnhof wurden in der Silvesternacht wehrlose Frauen von großen Männergruppen umzingelt, bedroht, bespuckt, bestohlen, sexuell belästigt – und wohl auch vergewaltigt. Unglaublich, dass so etwas hier im Schatten des Doms in der Nacht passiert, wo Tausende auf den Beinen sind, um friedlich und fröhlich den Jahreswechsel zu feiern. Staatsanwaltschaft und Polizei sind dabei, ihre Arbeit zu machen und für die dringend notwendige Aufklärung zu sorgen. Schwer genug, Licht in diese dunkle Kölner Nacht zu bringen. Angetrunkene und Besoffene, rücksichtslose Chaoten, die ihre Chinaböller mitten im Trubel zünden und ihre Raketen auch auf die Polizei abfeuerten, machen die Sache nicht einfacher.
Mir als Erzbischof von Köln macht es große Sorge, dass so etwas hier bei uns geschehen konnte. Mein Mitgefühl gehört allen betroffenen Frauen und Opfern dieser schrecklichen Nacht. Nirgendwo darf es bei uns Platz für sexuelle Gewalt und Sexismus geben.
Sorge macht mir auch, dass jetzt, wo längst nicht alle Fakten auf dem Tisch liegen, viele ihr Urteil bereits gefällt haben: „Na, Woelki, das kommt dabei raus! Da siehst du, was du mit deiner Willkommenskultur und deine Flüchtlingskanzlerin uns hier in Köln eingebrockt haben!“ Als wenn es so einfach wäre! Es darf bei uns jetzt keinen Platz für Diskriminierung und Rassismus geben.
Besorgt bin ich zudem, weil jetzt sofort viele ihr politisches Süppchen aus diesem dunklen Neujahrsbeginn kochen. Obergrenzenschützer und Populisten nutzen offenbar die Gunst der Stunde.
Vieles, was ich an übler Hetze und blankem Hass in den letzten Tagen gehört und gerade auch in unseren sogenannten sozialen Netzwerken gelesen habe, ist nicht nur widerlich und unverantwortlich. Es verstößt auch gegen die menschliche Würde. Die Würde des Menschen, die hier in Köln von den marodierenden Männerhorden in schändlichster Weise missachtet wurde.
Ob es nun Flüchtlinge waren oder Ausländer, die schon lange bei uns leben – oder ob darunter auch Deutsche waren – oder ob die Gewalttaten von Hintermännern organisiert wurden, all das muss gründlich aufgeklärt und ehrlich benannt werden. Und die Gewalttäter müssen selbstverständlich zur vollen Verantwortung gezogen werden – dafür haben wir unseren Rechtsstaat und die Gesetze. Aber es muss auch einen verantwortlichen Umgang mit der Wahrheit geben. Nur weil ein paar Dutzend besoffene Fußballfans Gewalt ausüben und unser Rechtssystem missachten, sind doch auch nicht gleich Millionen von Fußballfans automatisch alle gleich Hooligans!
Gerade erst Weihnachten haben wir das Geschenk der Menschwerdung Gottes groß gefeiert. Wir dürfen doch jetzt nicht diese Menschenwürde, die jeder Mensch von Gott erhalten hat, mit Füßen treten oder treten lassen. Nur wenn wir im Anderen immer unsere Schwester – unseren Bruder –erkennen, werden wir es schaffen, dass selbst unsere dunkelsten Nächte hell werden.
Rainer Woelki
Erzbischof von Köln