Irgendwann im Jahr 1508 kam ein ziemlich unbekannter 25-jähriger Provinzmaler namens Raffaello Sanzio (oder Santi) in Rom an, wo der kriegerische Kraftmensch Julius II. als Papst regierte und die Crème de la crème der Renaissancekünstler um sich scharte. Es war die Zeit, als diese Künstler ihre Persönlichkeit entdeckten und aus den frommen, anonymen Handwerkern von einst selbstbewusste Individuen wurden. Raffael, wie er bald nur noch genannt wurde, stammte aus Urbino, einem Bergnest, das der Herzog Federico da Montefeltro zu einem Zentrum von Kunst und Architektur gemacht hatte. Raffael hatte dort in der Werkstatt seines Vaters und dann im glanzvollen Florenz eine Menge gelernt.
Offenbar so viel, dass ihm der Papst ziemlich rasch die Ausgestaltung seiner Privatgemächer übertrug. Der Aufsteiger aus der Provinz soll anmutig und charmant gewesen sein, verträglich, ein angenehmer Gesellschafter ohne Allüren, ganz anders als der wie ein König auftretende, intellektuell abgehobene Leonardo da Vinci oder der mürrisch-schroffe Michelangelo, seine größten Konkurrenten in Rom. "Grazia", Anmut, wird ihm denn auch in den meisten zeitgenössischen Zeugnissen bescheinigt.
Melancholische Madonnen
So malte er seine Porträts von Adeligen und jungen Mädchen, Geldleuten und Kirchenfürsten: sanfte Gesichter, offener Blick, eine Atmosphäre von verletzlicher Unschuld. So malte er vor allem die Madonna, immer wieder, Dutzende Male, wie sie die Bürger für ihre vornehmen Schlafzimmer und die Klöster für die Altäre bestellten. An die Stelle der gewohnten ikonenhaften Strenge traten Zärtlichkeit und Melancholie. Keine distanzierten Herrscherinnen mehr, kein Thron und kein Hofstaat. Aus ruhigen Landschaften und lockeren Wölkchen treten Mütter hervor und bringen den Himmel auf die Erde. Das Jesuskind: oft verspielt, quirlig, und immer verliebt in seine junge, lächelnde Mamma.
Die Herzen müssen ihm zugeflogen sein, wohl auch das des zu Jähzorn und Machtspielen neigenden Pontifex. Er ließ Raffael in seinen Privaträumen, den „Stanzen“ (italienisch: Zimmer), freie Hand. Am bekanntesten ist die „Schule von Athen“ in der Stanza della Segnatura geworden, zehn Meter breit und in 45 Tagen vollendet. Vor einer architektonischen Kulisse, die an die gerade entstehende Peterskirche erinnert, sind Philosophen, Ethiker, Geographen, Mathematiker in einer erregten Debatte begriffen. Man erkennt Ptolemäus mit der Weltkugel, Euklid (oder ist es Archimedes?) mit einem Zirkel, Pythagoras, Sokrates, Aristoteles; Michelangelo soll Heraklit verkörpern und Leonardo den großen Platon.
Klar, dass der Schöpfer solcher Panoramen in Rom eine Blitzkarriere machte – zumal er enorm fleißig war, sein bescheidenes Auftreten beibehielt und die neu entwickelte Kunst der Druckgrafik nutzte: Der Kupferstecher Raimondi verbreitete Raffaels Entwurfszeichnungen in großen Auflagen. Je berühmter und reicher er wurde, desto mehr geriet Raffael allerdings auch in Konkurrenz zu den anderen Stars der römischen Kulturszene. Michelangelo beschuldigte ihn gar der Werkspionage.
Engelchen und Soldaten als Individuen
Auf so eine Idee konnte man durchaus kommen. Unter Experten gilt Raffael bis heute als scharfer, stets lernwilliger Beobachter, der Zeittrends und Impulse seiner Rivalen unbefangen aufgriff, freilich nie einfach nachahmte, sondern weiterentwickelte und in seinen eigenen unverwechselbaren Stil einschmolz.
Doch wie er jedes Engelchen, jede Dienstmagd, jeden römischen Soldaten auf seinen Altarbildern und Historiengemälden zum Individuum gestaltete, mit zahllosen kleinen Eigenheiten in der Mimik, Körperbewegung, Kleidung, das war einzigartig. Seine lebhaften Farben, seine subtile Ausdruckskraft, seine Virtuosität, was Sujets, Formate, Maltechniken betraf, das alles entzückte die Zeitgenossen und riss den Künstlerbiografen Giorgio Vasari zu dem Urteil hin: "Naturgetreuer als die Natur selbst!"
Heute weiß man, dass wohl niemand seiner Kollegen Bildkompositionen und Figurenaufbau sorgfältiger vorbereitet hat als Raffael. Vor der eigentlichen Malarbeit experimentierte er unermüdlich mit Bewegung und Ausdruck seiner Figuren, platzierte sie einmal da, einmal dort auf der Leinwand, benutzte Kreide, Kohle, Feder, Metall- und Silberstift. Die Umrisse seiner Skizzen pauste oder stach er von maßstabsgetreuen Kartons auf ein weiteres Blatt durch, wo dann Gesichter, Hände, Frisuren, Gewänder bis ins kleinste Detail ausgearbeitet wurden.
Und doch wirken diese Gemälde, wenn sie fertig sind, so unbeschwert und leicht, manchen sind sie zu harmlos in ihren Entwürfen einer idealen Welt, auf der es fast immer ruhig und friedlich zugeht. Sogar wenn er Massaker und Martyrien darstellen muss, lässt Raffael nur sparsam Blut fließen. Sein heiliger Sebastian, dem bekanntlich ein Pfeilhagel den Tod brachte, blickt versonnen auf so einen Pfeil, den er elegant wie eine Schreibfeder ins Bild hält.
Ruinen, Wandteppiche und Europas größte Baustelle
1514, Raffael steht vor der Vollendung der „Stanzen“ und Michelangelo hat die Decke der Sixtinischen Kapelle mit der Schöpfung und dem Jüngsten Gericht geschmückt, stirbt Papst Julius II. Sein Nachfolger, der nicht minder kunstsinnige Leo X., ein Medici, kennt Raffael schon aus Florenz und überhäuft ihn mit Aufträgen. Er soll weitere Gemächer im Vatikan ausmalen, die Altertümer der Stadt Rom dokumentieren und sichern – bisher hat man die soliden Quader gern für Neubauprojekte zweckentfremdet -, Wandteppiche für die Sixtina entwerfen.
Als sein Landsmann Bramante stirbt, halst ihm der Papst auch noch die Bauleitung der Peterskirche auf. Es ist die größte Baustelle Europas, und Raffael hat als Architekt bisher lediglich eine Loggia am Tiber und den Marstall des Bankiers Chigi entworfen. Doch er hat hervorragende Mitarbeiter und wunderbare Ideen für Fassaden und Ornamente. Weil er mittlerweile in Arbeit erstickt, muss Raffael auch die Ausführung seiner Entwürfe für die Räume im Vatikan und viele Details der Madonnen und Porträts seiner florierenden Werkstatt überlassen – und handelt sich erstmals Kritik an fehlender Frische und Anmut seiner Gestalten ein.
Am 6. April 1520, es ist sein 37. Geburtstag und wieder ein Karfreitag wie dieser, erliegt Raffael einem Fieberanfall. War es die Malaria? Die Ausdünstungen der Sümpfe um Rom sind berüchtigt. Im Volk geht das Gerücht um, in einer Wand des Apostolischen Palastes sei ein gefährlicher Riss aufgetreten; hat sich bei Raffaels Tod die Erde aufgetan wie beim Sterben Christi auf Golgota? Wie müssen ihn die Menschen damals verehrt haben! Und geliebt.
Buchtipp: Der Münchner Kunsthistoriker Ulrich Pfisterer analysiert in seinem großformatigen Prachtband "Raffael. Glaube, Liebe, Ruhm" (C. H. Beck, 384 Seiten mit 235 farbigen Abbildungen) die Zusammenhänge zwischen Leben und Werk und die Selbstinszenierung des Künstlers.