ZdK-Präsident Meyer zum Mauerfall und zu Katholiken in der DDR

"Kirchen boten Raum für Freiheit"

Die friedliche Revolution in der DDR war nach Auffassung von Hans Joachim Meyer in erster Linie eine Freiheitsbewegung. Erst im Verlauf der Wende sei dann die deutsche Einheit als Option am Horizont erschienen, weil die DDR immer stärker ihre Daseinsbegründung verloren habe, so der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.

 (DR)

KNA: Herr Professor Meyer, was bedeutet Ihnen persönlich der Fall der Mauer vor 20 Jahren?
Meyer: Diese friedliche Revolution hat vielen Menschen in der DDR Lebenschancen eröffnet, die uns seit dem Zweiten Weltkrieg verwehrt wurden. Und sie hat Hoffnungen erfüllt, an deren Erfüllung viele von uns kaum noch zu glauben wagten. Das bleibt der vorherrschende Eindruck. Daneben gibt es, wie immer, wenn ein großer Traum in Erfüllung geht, auch manche Enttäuschungen und Alltagserfahrungen, die einen auf den Boden der Tatsachen zurückholen.

KNA: Welche meinen Sie konkret?
Meyer: Wir hatten beispielsweise gehofft, dass sich nach dem Wegbrechen der ideologischen Diktatur wieder mehr Menschen für die befreiende Botschaft des Evangeliums öffnen würden. Allerdings bin ich da durchaus skeptisch geblieben, weil schon sichtbar war, dass die Distanz zu Glauben und Kirche vielen Menschen in der DDR zur Lebenshaltung geworden war. Die Erfahrung von Freiheit ist also nicht immer mit dem Gefühl von Erfolg verbunden.

KNA: Unterschiedlich wird bewertet, welche Bedeutung die Kirchen für den Fall der Mauer hatten. Wie sehen Sie das?
Meyer: Die Kirchen boten den Raum, wo Menschen sich in Freiheit begegnen konnten. Schon aufgrund der Geschichte der Region waren dabei die evangelischen Kirchen viel bedeutender als die katholischen. Unter dem Dach der Kirchen konnten dann auch Nichtchristen erfahren, dass eine Alternative zum herrschenden System denkbar und möglich war. Zudem gab es unter den evangelischen Christen eine kleine, aber sehr aktive Gruppe von Persönlichkeiten, die in entschiedener Opposition zum SED-Regime standen. Allerdings darf nicht der Eindruck entstehen, dass nur die Christen die Mauer zu Fall gebracht haben. Auch eine große Zahl von Menschen, die an den Idealen des Sozialismus festgehalten haben und gleichzeitig eine bessere Gesellschaft wollten, hat ihre Ideale eingefordert und Entscheidendes bewegt.

KNA: Und die katholischen Christen?
Meyer: Als kleine Minderheit hat sich die katholische Kirche in der DDR in eine prinzipielle Distanz zum Staat begeben, ohne die ständige Auseinandersetzung mit den Herrschenden zu suchen. Dieser Rückzug in die Nische hat dann allerdings dazu geführt, dass die katholische Kirche den gesellschaftlichen Wandel in der DDR zu spät bemerkt und dann zu zögernd auf die Ereignisse von 1989 reagiert hat.

Für mich persönlich wie für viele andere Katholiken war die katholische Kirche ein Ort der Freiheit. Ein Ort, an dem der absolute Herrschaft einfordernde Staat an Grenzen kam und wo das Evangelium der herrschenden Ideologie Grenzen setzte. Deshalb gab es auch eine beachtliche Zahl an Katholiken, die für Veränderungen arbeiteten, allerdings wegen der Minderheitensituation der katholischen Kirche oft in ökumenischen Initiativen. Aber wir Katholiken sind nicht erst wach geworden, als die Tore schon aufstanden.

KNA: War die deutsche Einheit für Sie und die DDR-Katholiken im November 1989 überhaupt ein Ziel?
Meyer: Unser erstes Ziel war die Freiheit. Deshalb ist ja auch der 9. Oktober 1989 in Leipzig für mich der eigentliche Wendepunkt, und nicht der 9. November 1989. Am 9. Oktober ist die SED-Macht vor dem Freiheitswillen der Bürger zurückgewichen. Danach war nichts mehr wie zuvor. Am 9. November haben sich die Menschen dann auch noch das Recht auf Reisefreiheit erkämpft. Aber entscheidend für uns war, dass wir wieder aktiv an der Geschichte und der Gesellschaft teilhaben und über unsere Zukunft mitbestimmen konnten...

KNA: ...Und die Einheit?
Meyer: Auch für die Westdeutschen und die westlichen Alliierten war die Einheit ja lange keine Option. Aber die DDR verlor ja immer stärker ihre Daseinsbegründung; ein geteiltes Deutschland war immer weniger eine sinnvolle Alternative. Die Menschen im Osten hatten keine Lust mehr auf ein neues gesellschaftliches Experiment.

KNA: Auch die kirchliche Einheit hat sich dann 1990 sehr schnell vollzogen, etwa in der Bischofskonferenz und im Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Wurde den DDR-Katholiken da etwas übergestülpt?
Meyer: Natürlich musste man sich daran gewöhnen, dass der Staat, der bisher Gegner war, plötzlich Partner wurde, etwa bei der Militärseelsorge oder beim Religionsunterricht in der Schule. Bei der Militärseelsorge war das für die DDR-Katholiken nicht so ein großes Problem. Aber beim Religionsunterricht in den Schulen gab es doch ein großes Unbehagen, weil die Schulen bisher christliche Kinder sehr feindlich behandelt hatten. Erst in der aktuellen Debatte, in der es etwa um den Religionsunterricht an Berliner Schulen geht, merken manche Ostdeutschen, wie wichtig das Thema ist.

KNA: Was haben die DDR-Katholiken aus heutiger Sicht eingebracht in den deutschen Katholizismus?
Meyer: Sie haben von Anfang an die Erfahrung gemacht, eine kleine Minderheit in der Gesellschaft zu sein und damit zu leben. Und sie haben gelernt, dass diese Minderheit eine eigene Identität gewinnen muss, um auch nach außen erkennbar zu sein. Für die westdeutschen Katholiken ist das eine Perspektive, an die man sich erst gewöhnen muss.

Das Interview führte Christoph Arens.