Zeitforscher über die Bedeutung von Arbeit und Freizeit

Zunehmend bestimmt der Stärkere

Der Stress von Advent und Weihnachten klingt gerade ab, aber schon geraten neue Aufgaben und Anforderungen in den Blick. Was im Verhältnis von Arbeit und Freizeit wichtig ist, erläutert der Zeitforscher Jürgen Rinderspacher.

Das Symbolfoto zeigt eine Frau vor einem Computer-Bildschirm / © Oliver Berg (dpa)
Das Symbolfoto zeigt eine Frau vor einem Computer-Bildschirm / © Oliver Berg ( dpa )

KNA: Herr Rinderspacher, die IG Metall fordert in ihren Tarifverhandlungen seit einiger Zeit die Wahl zwischen mehr Lohn und mehr Freizeit. Viel mehr Mitarbeiter als erwartet wählen mehr Zeit. Überrascht Sie das?

Jürgen Rinderspacher (Sozialwissenschaftler, Zeitforscher, Autor, Universitäts-Lehrbeauftragter und Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik): Ja und Nein. Es überrascht mich nicht, da mit den Jahren in der Arbeitswelt eine Verschiebung stattgefunden hat im Verhältnis von Zeit und Geld. Vielen wird die Zeit für eigene Aktivitäten immer wichtiger. Und es überrascht mich, weil für Arbeitnehmer damit auch große Kostenüberlegungen verbunden sind. Das hat ja Konsequenzen, die weit in die Zukunft reichen. Die eigene Rente wird dadurch geschmälert, und angesichts steigender Lebenskosten etwa für Unterhalt und Miete müssen Berufstätige schon überlegen, ob sie mehr Freizeit wählen und mit niedrigerem Gehalt auskommen wollen.

Die Regelung ist zudem auch nur für personell gut organisierte Betriebe mit hohem und tariflich geregeltem Lohnniveau möglich. Im Niedriglohnsektor etwa bei Online-Versandhändlern oder Paketzustellern sieht das anders aus. Deren Beschäftigte werden wohl eher zugunsten von mehr Geld entscheiden. Ich sehe hier die Gefahr einer Spaltung zwischen tarifgeregelter und prekärer Arbeitswelt. Bei all dem darf man die "normale" Alternative nicht vergessen, nämlich tarifliche Arbeitszeitverkürzung mit entsprechendem Lohnausgleich.

KNA: Früher haben viele Menschen den ganzen Tag für ihren Lehnsherrn gearbeitet, nur das Schlafen war freie Zeit. Heute haben wir die Fünf-Tage-Woche und vielfach 36-Stunden-Wochenarbeitszeit. War das eine nur schlecht und ist das andere nur gut?

Rinderspacher: Die 36-Stunden-Woche ist natürlich gut, weil sie mehr zeitliche Freiheit für Beschäftigte gebracht hat. Die freie Zeit haben die arbeitenden Menschen aber seit den 80er Jahren mit dem Zugeständnis an höhere Flexibilisierung erkauft. Das ist - jedenfalls für die Arbeitnehmer - nicht immer so gut. Zunehmend bestimmt der Stärkere, der Arbeitgeber, über die Zeiten, zu denen gearbeitet wird. Arbeitnehmer müssen viel öfter immer erreichbar und einsatzbereit sein.

KNA: Vielen hilft die Flexibilisierung aber, ihren Alltag besser zu organisieren und etwa die Pflege für Angehörige zu übernehmen.

Rinderspacher: Das ist natürlich richtig. Aber gerade bei der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf braucht es auf beiden Seiten sowohl Flexibilität als auch Verlässlichkeit. Der Pflegende braucht Verlässlichkeit für die Routinearbeiten, die ja oft mit anderen Pflegekräften synchronisiert werden muss, manchmal aber auch Flexibilität für besondere Fälle. Das geht nicht immer leicht zusammen. Oft ist die gefundene Regelung allein an den Bedürfnissen des Betriebes orientiert.

KNA: Bedroht Flexibilität auch das freie Wochenende?

Rinderspacher: Natürlich. Es kommt zu einer Entgrenzung zwischen verlässlicher Arbeitszeit auf der einen und verlässlicher freier Zeit auf der anderen Seite, wenn immer mehr Menschen an Samstagen und sogar Sonntagen arbeiten müssen. Dabei ist das freie Wochenende mit zwei zusammenhängenden freien Tagen so wichtig. Es sorgt dafür, dass bei den Menschen die innere Stimmung umschlägt von "Was arbeite ich heute?" zu "Was unternehmen wir heute?". Die Frage, wie ich meine Zeit verbringe, kippt an Wochenenden um 180 Grad, und das ist gut so. Jeder braucht diese Phasen der Erholung, um zu sich selbst zu kommen.

KNA: Was raten Sie?

Rinderspacher: Mein Vorschlag zumindest für den Sonntag: Das Grundgesetz so anwenden, wie es gedacht ist. Dieses schützt den Sonntag als Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung. Der Drang zu mehr Sonntagsöffnungen kommt in erster Linie vom Einzelhandel, der sich vom durchgehend geöffneten Online-Handel bedroht sieht. Deshalb sollte man darüber nachdenken, auch den Internet-Handel an Sonntagen zu unterbrechen. Wie man das gesetzlich macht und welche Partei sich das auf die Fahne zu schreiben traut, ist natürlich eine andere Frage.

KNA: Unsere Gesellschaft wird älter, die Menschen werden älter. Viele wollen auch länger arbeiten. Andere nicht. Welche Formen der Arbeitszeit sehen Sie für die Zukunft?

Rinderspacher: Ich hege eine große Skepsis gegenüber einer möglichen Wahlarbeitszeit, bei der jeder das Ende seiner Berufstätigkeit bestimmt. Die Stärksten würden sich durchsetzen, die Schwachen blieben auf der Strecke. Das Solidaritätsmodell würde leiden. Wichtig wäre es, die Arbeitsintensität in den Blick zu nehmen. Wir alle wissen, dass Ältere oft nicht mehr mit derselben Geschwindigkeit, Intensität und Ausdauer auf dem geforderten hohen Niveau mithalten können. Hierfür sollte es in Zukunft Modelle geben, die dann mit einer Arbeitszeitverkürzung kombiniert werden könnten.

KNA: Trotz immer mehr Freizeit haben viele immer mehr Stress. Liegt das auch an den Medien?

Rinderspacher: Ganz bestimmt. Zum einen steigt - auch natürlich dank mehr Freizeit - der Medienkonsum der Menschen immer noch an. Das liegt nicht nur an den sogenannten sozialen Medien; auch dem Fernsehen widmen Menschen heute mehr Aufmerksamkeit als noch vor einigen Jahren. Insgesamt führt das dazu, dass die Zeit abnimmt, in der wir aktiv etwas unternehmen.

Einerseits bietet das Smartphone ja interessante neue Möglichkeiten, unkompliziert alte und neue Freundeskreise und manchmal sogar das Familienleben zu pflegen und sich niederschwellig über alles mögliche zu informieren. Das ist ja auch etwas Aktives. Andererseits nimmt der Umgang mit sozialen Medien immer mehr den Charakter von Arbeit an. Es kommt zu so etwas wie einer Verarbeitlichung der Freizeit, so dass Stress entstehen und Erholung ausbleiben kann.

KNA: Haben wir das Ausruhen - das Nichtstun - verlernt?

Rinderspacher: Nein, ich glaube nicht. Früher als Kind habe ich mit meiner Großmutter in Berlin das Fenster zur Straße geöffnet, die Ellenbogen aufs Fensterbrett aufgelehnt und wir haben stundenlang dem Treiben zugesehen - wohliges Nichtstun. Wenn ich heute meine Kinder frage, was sie an ihrem freien Tag tun wollen, erhalte ich zur Antwort: "Chillen". Da hat sich so viel nicht geändert.


Quelle:
KNA