domradio.de: In einem aktuellen Fall geht es um einen 14-jährigen jüdischen Jungen, der an einer Berliner Schule Opfer antisemitischer Beleidigungen und körperlicher Attacken geworden sein soll. Medienberichten zufolge haben die Eltern ihren Sohn nach einem körperlichen Angriff inzwischen von der Schule abgemeldet. Sie werfen demnach der Schulleitung vor, zu spät auf die Beleidigungen und Angriffe seitens türkisch- und arabischstämmiger Schüler reagiert zu haben. Wie oft erleben Sie selbst oder Ihre Gemeindemitglieder antisemitische Anfeindungen oder sogar Übergriffe?
Abraham-Josef Lehrer (Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und Vorstand der Synagogen-Gemeinde in Köln): Ich persönlich erlebe Gott sei Dank keine Anfeindungen, aber ich bin auch in einer Position, die es Antisemiten schwer macht, direkt an mich heranzukommen. Aus unserer Gemeinde hier in Köln hören wir immer wieder Berichte, dass es auf den Schulhöfen vor allem zu Übergriffen verbaler Art kommt, mit kleinen Rangeleien, ganz selten verbunden mit wirklichen Tätlichkeiten. Aber das Wort "Jude" ist offensichtlich auf dem Schulhof zu einem Schimpfwort geworden. Traurig ist, dass es auch zu jungen Menschen gesagt wird, die überhaupt keine Juden sind, einfach weil man sie beschimpfen will.
domradio.de: Was sagt das denn über unsere Gesellschaft aus?
Lehrer: Ich glaube, dass wir mit diesen Vorfällen ein Alarmzeichen erhalten. Unsere Gesellschaft und unsere Politik sind aufgefordert, entsprechende Maßnahmen und Schulungen anzubieten, um junge Menschen von so einem Weg, von so einer Art des Redens und Handelns abzubringen, um diese Ressentiments abzubauen und ganz abzuschaffen. Ich weiß, dass man Antisemitismus nie ganz wird abschaffen können. Aber ich glaube, dass wir mit diesem Alarmsignal aufgefordert sind, in unserer Gesellschaft etwas gegen diese Signale zu tun und an den Schulen aktiv zu werden.
domradio.de: Jetzt gibt es in der Alternative für Deutschland Menschen wie Herrn Höcke, der anregt, dass man die Geschichtsschreibung in die andere Richtung überdenken möge.
Lehrer: Björn Höcke ist ein verblendeter Mensch und es tut mir sehr Leid um ihn. Seine Sichtweise ist absolut nicht zu teilen und sie bereitet den wirklichen Nazis den Weg zu sagen: "Da ist einer in der großen Politik, der fordert, dass wir endlich mit dem Gedenken und Erinnern aufhören." Das hat nichts mit den Schuldzuweisungen zu tun. Aber das Vergessen oder Negieren der Erinnerung darf niemals eintreten.
domradio.de: Es gibt zivilgesellschaftlich Widerstand, der sich gegen die AfD regt. Ein Beispiel sind die Bemühungen, den Parteitag hier in Köln zu verhindern. Wünschen Sie sich noch mehr klare Kante von Zivilgesellschaft und Politik?
Lehrer: Ich begrüße es und kann den Menschen nur meine Hochachtung zollen, die sich in den unterschiedlichen Bündnissen darum bemühen, ihren Protest und ihre Ablehnung des AfD-Parteitags in Köln öffentlich und deutlich zu zeigen. Es wird davon abhängen, wie viele Menschen zu den angekündigten Aktionen und Demonstrationen, die rund um den Parteitag angekündigt sind, kommen. Ich hoffe und erwarte, dass diese ganzen Aktionen friedlich und gesetzeskonform ablaufen werden. Aber natürlich würden wir es begrüßen, wenn nicht nur ein paar Hundert, sondern Zehntausende von Menschen den Aufrufen folgen.
domradio.de: Es ist zu beobachten, dass eine neue Form von Antisemitismus von jungen Arabern ausgeht. Weshalb denken die antisemitisch? Ist das eine undifferenzierte Vermischung mit israelischer Politik, oder was passiert da?
Lehrer: Wenn man im Irak, in Syrien, in Afghanistan oder ähnlichen Ländern aufgewachsen ist, dann haben dort die Medien tagaus und tagein immer wieder erzählt, dass der Staat Israel der Erzfeind ist. Nun sind wir hier nicht in Israel. Aber auf der anderen Seite wurde genauso erzählt, dass Juden Schweine sind und vernichtet werden müssen. Mit dieser angeeigneten Einstellung kommen junge und ältere Menschen nach Deutschland. Wir sind auch hier sehr gut beraten, wenn wir unmittelbar und frühzeitig beginnen, ihnen unsere Werte zu vermitteln und ihnen deutlich zu machen, dass sie mit dieser Einstellung hier nicht heimisch werden können beziehungsweise nicht bleiben können.
domradio.de: Ist hier von einem muslimischen Antisemitismus die Rede? Kann man das so nennen?
Lehrer: Wir haben vor dieser Zuwanderungswelle immer vom muslimischen Antisemitismus gesprochen, weil wir unter den Muslimen hier in Deutschland auch einen Prozentsatz hatten, der sich antisemitisch geäußert und verhalten hat und an zahlreichen Übergriffen beteiligt war. Ich würde im Moment aber noch ein bisschen zwischen den Menschen, die schon länger hier leben und den Zuwanderern unterscheiden wollen. Das ist eine andere Qualität.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.